Nachtrag (06.09.2012): So, nun ist es soweit. Der GMW-Band ist jetzt online. Das Lesen der Blog-Beiträge könnt ihr euch jetzt also sparen ;-). Ich werde die letzten beiden dennoch wie geplant die nächsten Tage publizieren – vielleicht mag ja mancher die portionierte Darbietung lieber. 🙂 Schade, dass das nicht vorher besser bekannt gemacht worden ist! Wer in die Session nächste Woche kommen mag: Das eigentliche Gedankenexperiment wollte ich erst in der Präsenz-Situation in aller Kürze präsentieren. Das könnte man jetzt also schon vorab lesen. Macht auch nichts. Denn immerhin werden wir noch zwei andere Varianten haben – und die sind nicht online.
Diesen Blog-Post versteht man nur, wenn man die beiden vorhergehenden gelesen hat. Wer also erst jetzt aus dem Urlaub kommt, bitte erst hier (Worum geht es eigentlich?) und dann hier (Was hat der Beitrag mit dem Motto der diesjährigen GMW zu tun?) nachlesen. Was ich letztlich mache, ist, in verdaulichen Portionen meinen Beitrag für die GMW vorab freizuschalten – mit Ausnahme des eigentlichen Gedankenexperiments selbst, für das dann (zusammen mit Petra Grell und Beat Döbeli) Zeit in der Präsenz-Situation ist. Sollte, wie ich erfahren habe, der GMW-Band nun doch schon mehrere Tage vor der GMW online sein (wäre ja schön, hätte ich aber gerne etwas früher gewusst ;-)), dann sollten diejenigen vielleicht den letzten Abschnitt des Beitrags NICHT lesen, die vorhaben, am Dienstag Nachmittag (11.09.) in Session B.4 zu kommen :-). Nun also zum zweiten Abschnitt/Akt, der langsam zum Zweck des Gedankenexperiments hinführt
Warum Prüfungen offenbar als unentbehrlich gelten
Wenn es um die Kompetenzorientierung an Universitäten geht, tun wir uns in der Regel nicht allzu schwer, didaktische Szenarien zu nennen und erfolgreiche Beispiele für deren Umsetzung zu finden, in denen Studierende tatsächlich handlungsfähiger werden: Problem-, fall- und projektorientierter Unterricht, die Verzahnung von Praktika und Seminaren, Szenarien zur Förderung des forschenden Lernens usw. sind allesamt dazu geeignet, neben Kenntnissen auch Fähigkeiten und Fertigkeiten bis hin zu Haltungen aufbauen zu helfen, was man gemeinhin unter den Kompetenzbegriff subsumiert. Wenn es aber darum geht, Möglichkeiten darzulegen, wie man die so geförderten Kompetenzen auch erfassen und im laufenden Lehrbetrieb abseits spezieller Forschungs- und Entwicklungsprojekte flächendeckend und vor allem umfassend (also nicht nur punktuell) erfassen und bewerten kann, sieht es wesentlich schlechter aus. Zwischen der didaktischen Fantasie und Vielfalt auf der einen Seite (Baumgartner, 2012) und der Realität der Prüfungspraxis auf der anderen Seite liegt eine kaum zu überbrückende Kluft (Huber, 2008, S. 22). Forscher auf dem Gebiet der Hochschuldidaktik und -entwicklung weisen in ihren Beiträgen am Rande stets darauf hin, dass das Prüfungssystem für eine kompetenzori-entierte Lehre ebenso wie für einen Lernkulturwandel mit verändert werden müsse (z.B. Brahm, Jenert & Meier, 2010). Wie das im Einzelnen genau aussehen könnte, beschränkt sich meist auf Beispiele unter günstigen Rahmenbedingungen. Die Prüfungspraxis als solche, wie wir sie heute haben, wird jedenfalls nicht in Frage gestellt.
1970 hat die Bundesassistentenkonferenz (BAK) in ihrer auch heute noch viel beachteten Expertise nach einer Analyse der eklatanten Mängel und Widersprüche des Prüfungswesens, das sich in den letzten vier Jahrzehnten nur wenig geändert hat, klar Position bezogen: Die Autoren der Expertise kommen zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, das bestehende System von Prüfungen mit Rechtsfolgen (also Prüfungen, die mit Ziffernnoten einhergehen und letztlich der Selektion dienen) würde sich „auflösen“. Dabei sind Prüfungen mit Rechtsfolgen von Prüfungen zu unterscheiden, die „didaktische Funktionen“ haben. Heute würden wir diese als „Assessment for learning“ bezeichnen. Die Begründung für diese radikale Forderung lautete wie folgt: „Solange nicht eindeutig bewiesen ist, daß die selektierenden Prüfungen hinsichtlich ihres prognostischen Wertes signifikant zuverlässiger sind als der Zufall, muss die Maxime festgehalten werden, daß die hypothetisch möglichen Vorteile der Prüfungen gegenüber dem Zufall die existentiellen Konsequenzen nicht rechtfertigen können, die gegenwärtig mit so unsicheren Entscheidungen verbunden sind“ (BAK, 1970, S. 57). Stattdessen sollten Beratungsangebote sowie Möglichkeiten der Selbstkontrolle Instrumente der Steuerung sein. Ein solcher Vorschlag erscheint heute undenkbar: Ähnlich wie auf dem Schulsektor verbinden wir an Universitäten nicht erst seit Bologna, aber durch diesen Prozess wohl noch verstärkt, den Wunsch nach Qualität und Exzellenz mit Bildungsstandards, die ihrerseits nach einer möglichst „objektiven“ Überprüfung des jeweils erreichten Leistungsstands verlangen. Die Forschungspolitik stärkt mit massiver Förderung der Forschung zur Kompetenzdiagnostik parallel dazu den Glauben an eine wissenschaftliche Vorhersagbarkeit von Leistung und Erfolg.
Aber ist es wirklich so? Können wir ohne Prüfungen an unseren Universitäten nicht lehren und lernen? Würde der Lehrbetrieb zusammenbrechen, würde Hochschulbildung unmöglich werden, wenn wir nicht mehr prüfen würden? Was wäre, wenn es an unseren Universitäten keine Prüfungen mit Rechtsfolgen mehr gäbe? Diese Frage lässt sich in empirischen Studien nicht beantworten. Was wirklich wäre, wenn es keine Prüfungen mehr gäbe, kann man nicht herausfinden, indem man diese Situation künstlich für eine kleine Stichprobe herstellt, deren Mitglieder vor und nach der Studie Prüfungen machen und sich ein Studium ohne Prüfungen gar nicht vorstellen können! Umgekehrt gibt es aktuell wohl kein Bundesland, das es wagen würde, ein solches Realexperiment im Feld zu starten, mit dem man die Frage empirisch beantworten könnte. Ein Ausweg, doch noch zu einer Antwort oder einem Ansatz für mögliche Antworten zu kommen, ist das Gedankenexperiment.