Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Fahrrad für den Geist

Zu meinem offensichtlich provokativen Titel „Der Anfang vom Abschied vom „user-generated content“ haben Helge Städtler und Joachim Wedekind bewogen, die dahinter steckenden (eigentlich nur angedeuteten) Überlegungen zu kommentieren – in einer Form, die fast zu schade ist, um sie in Kommentaren zu verstecken, weshalb ich diese Inhalte hier noch einmal aufgreifen will hier nachzulesen).

Für Helge ist „der Rechner … mit die Erfindung, die den größten sozialen Impact in dem vergangen Jahrhundert und den letzten Jahren auf die Gesellschaft und vor allem die sozialen Aspekte hatte, den man sich überhaupt vorstellen konnte“ (Helge verweist auf Steve Jobs Bonmot „Fahrrad für den Geist“). Damit wendet sich Helge vor allem an Joachims Andeutung, es gäbe doch nur einen Unterschied in der Verfügbarkeit der Produktionsmittel und deren mehr oder weniger (un-) professionellen Anwendung.

Ja, das ist die Frage: Welcher Art ist der Einfluss der digitalen Entwicklung mit all seinen Facetten auf Lernen und Leben der Menschen heute? Also: Ich weiß es nicht. Die Fahrradmetapher jedenfalls ist mir durchaus sympathisch – das Fahrrad ermöglicht mir Mobilität – aber eine, die ich selbst kontrollieren kann, die mich nicht aus dem Sattel haut und bei der ich die Umgebung um mich herum noch mitbekomme.

Ich meine aus Helges und Joachims Austausch die Frage herauszuhören, was an „klassischen Bildungsidealen“ wert ist, weiter tradiert zu werden, und was sich aber verändern MUSS. Helges Worte: „Schule wird vermutlich als letzte Festung, die Veränderung mit allem was da ist bekämpfen um den nächsten pädagogischen Phyrrussieg vorzubereiten.“ Helges Unmut über die Schule kann ich verstehen. Wobei ich fast dazu neige, dass die notwendigen Veränderungen keineswegs so viel mit digitalen Medien zu haben. Wenn ich in Schulfragen involviert bin, merke ich schnell, dass ich in Argumentationsnot gerate. Denn natürlich: Auch ohne die digitalen Medien könnte man Schule in vielen Fällen so viel besser machen – mit einfachen Mitteln und – was ganz und gar nicht einfach ist – mit Lehrern, die diesen Beruf im wörtlichen Sinne aus einer Berufung heraus machen, die ihre Schüler mögen, stolz auf sie sein wollen und stolz auf sie sind, wenn sie etwas leisten, kreativ sind und die Welt neu erfinden, wie Helge es formuliert.

Aber: Das IST ein klassisches Bildungsideal, würde ich meinen. Und es geht eigentlich weniger darum, etwas jetzt Bestehendes zu bewahren, sondern einige der alten ideale (Erziehung zu einem selbstbestimmten Leben) endlich mal umzusetzen. Doch dazu brauchen wir alle – in jedem Lebensalter – auch Menschen, zu denen wir aufschauen können, die uns etwas beibringen, die mehr Wissen haben, die mehr Erfahrung haben, denen wir vertrauen, die uns Orientierung geben. DIESE Form von Autorität und Expertise brauchen wir aus meiner Sicht nach wie vor in unseren Schulen und Hochschulen und die kann auch kein „user generated content“ ersetzen.

6 Kommentare

  1. Der folgende Absatz findet meine volle Zustimmung:

    Auch ohne die digitalen Medien könnte man Schule in vielen Fällen so viel besser machen – mit einfachen Mitteln und – was ganz und gar nicht einfach ist – mit Lehrern, die diesen Beruf im wörtlichen Sinne aus einer Berufung heraus machen, die ihre Schüler mögen, stolz auf sie sein wollen und stolz auf sie sind, wenn sie etwas leisten, kreativ sind und die Welt neu erfinden, wie Helge es formuliert.

    Ich denke auch, dass eine ganze Menge ohne irgendwelche Rechner geschehen könnte. Ich glaube wenn ich Schulleiter wäre, würde ich für die gesamte Schulmannschaft (Schüler, Lehrer und mich selbst eingeschlossen) erstmal ein halbes Jahr lang alle drei Wochen ALLES verändern und die größtmögliche Neustrukturierung anrichten. Zum Beispiel drei Wochen lang die Schüler unterrichten lassen, oder drei Wochen lang die Lehrer von den Schülern unterrichten lassen, oder einfach mal alle Klassenraumtüren offen stehen lassen auch während des Unterrichts, oder, oder, oder, …
    Als Desensibilisierungstraining für Veränderung. Uns fehlt denke ich vielfach die Übung im Umgang mit Veränderung. Durch ein intensives Training, das sicher zu viel Widerstand führen wird, könnte man tatsächlich Übung für Veränderung eintrainieren, wie eine Flashdance Gruppe ihre ersten Dance-Moves.
    Neue Medien und alle möglichen Tools im Sinne von „Web 2.0“ könnten danach vielleicht ein neuer Funke sein, an dem sich ein kleines Feuerchen der Begeisterung entzünden liesse.
    Neue Technologien wären im ersten Anlauf vermutlich sinnlos verschossenes Pulver. Ein Veränderungstraining, das über ein ganzes Schulhalbjahr den permanenten Rollentausch und Umgebungsveränderung erzwingen würde, wäre genau das richtige Programm um Flexibilität und Bewegung in den Apparat zu bekommen.
    Wenn jetzt hier Lehrer, Schüler oder Schulleiter anfangen zu protestieren, nur zu. Ich kann damit prima Leben, das würde meine These von der geringen Veränderungsbereitschaft und vor allem von der Angst vor Veränderung nur bestätigen. 🙂
    Mit einem frischen Geist, Begeisterung für das Neue und dem Mut auch einfach mal was auszuprobieren, kann man soviel in seinem eigenen Leben und dem anderer verändern. Aber wie Gabi sagt, es braucht die Autorität, die das wagt und unterstützt. Ich denke nicht, dass es in erster Linie auf Fachexpertise ankommt, wichtig ist soziale und emotionale Kompetenz, um die von der Veränderung betroffen Menschen auf diesem Weg „mitzunehmen“.
    Und es braucht Durchsetzungsvermögen sowie gute Kommunikationsfähigkeiten. Eine klassische Führungsaufgabe, für die man nur erstklassige Führungskräfte als Schuleiter einstellen sollte.
    DAS wäre eine Veränderung ganz nach meinem Geschmack. Und danach würde sich ein Wandel und eine Anpassung an äußere Gegebenheiten in Schulen von selbst ergeben, weil diese dann offener wird für Neues, statt Antikörper zu bilden nach dem Motto Aktio-Reaktio, würden Andockstellen für neue Ideen geschaffen und die Verbindungsfreudigkeit erhöht.
    Eine stinknormale Vorstellung, das wäre schon morgen möglich, wenn man es will. Es wäre sogar ganz und gar nichts Besonderes. Denn DAS wäre normal, das was wir jetzt haben ist unnormal!

  2. hallo zusammen,
    sehr interessante diskussion rund um die reformierung unseres schulsystems. meine überlegungen zu diesem thema hatte ich an anderer stelle gepostet. nunmehr möchte ich die gelegenheit nutzen, auf eine grafik provokativ hinzuweisen, die mir letzthin unterkam:

    Grafik per Klick vergrößerbar
    das diagramm fand ich in der doktorarbeit von elisabeth kamentz zum thema Adaptivität von hypermedialen Lernsystemen. Ein Vorgehensmodell für die Konzeption einer Benutzermodellierungskomponente unter Berücksichtigung kulturbedingter Benutzereigenschaften (PDF). mit anderen worten: es geht um die interkulturelle usability von lernsystemen. spannendes thema und auch interessant zu sehen, wie sich allein die deutschsprachigen länder voneinander unterscheiden. die grafik zeigt den sog. machtdistanz-index, der nur 1 (von 5) komponenten widerspiegelt, anhand derer (nach geert hofstede) interkulturelle unterscheidungen getroffen werden können. ich möchte nicht näher darauf eingehen, nur zur erläuterung anführen, dass dieser index ausdrückt, wie weit sich personen von der macht im land entfernt fühlen, oder anders ausgedrückt, inwiefern sie ungleiche machtverhältnisse in der kultur akzeptieren.
    so, und jetzt führt frau kamentz an, wie sich dieser kulturelle index auf den lehr-/lernkontext auswirkt. wenig überraschend: deutschland rangiert als das autoritätshörigste deutschsprachige land in diesem diagramm.
    was ich sagen will: benötigen wir wirklich eine/n weise/n lehrer/in in einer wie-auch-immer-gearteten schule, die schüler/innen den weg zur selbstbestimmung weist? nicht, dass mir wegweisende strukturelle alternativen sich aufdrängten – aber stünde uns nicht eine selbstreflexivere brille, die unser schulsystem auch kulturell grundsätzlich hinterfragt?
    generell gesprochen: mehr mut zur diskursiven kommunikation – und weniger monologisierende instruktion (und jede präsentation stellt ja eine form des monologs dar)! also bitte nicht die diskussion nur deshalb nicht grundsätzlich führen, weil noch niemandem eine gesamtgesellschaftlich tragbare lösung eingefallen ist … so mein bescheidenes plädoyer 😉
    gruss,
    anja

  3. ok, dann muss ich den link zur grafik textuell nachreichen …
    mfg, acw

  4. @acw: Ich denke dass man leicht einige Dinge verwechselt, wenn man die Begriff Autorität und Macht ins Spiel bringt.
    In meinem Beitrag „Deutschlands Innovationsbremse heißt “Bildung” und…“ habe ich interessanterweise eine ähnliche Grafik wie Du hier eingebunden, nämlich das Modell der Wertegemeinschaften nach Ronald Inglehart.
    Dort ist Deutschland stark rational und nicht an traditionellen Werten ausgerichtet, was aber viel gravierender erscheint, ist die Tatsache, dass wir offenbar eher zu Werten der autoritätsbezogenen Konformität neigen, statt zu einer offenen und toleranten Gesellschaft die sich postmodernen Werten zuwendet.
    Was hat das jetzt mit Macht und Autorität zu tun? Ganz einfach, ich denke nicht, dass man etwas verändern kann in eine so auf Autoritäten ausgerichteten Gesellschaft, ohne das jemand voranschreitet UND was viel wichtiger ist, dieser jemand (nennen wir ihn Führungskraft) von seinem nächsten Vorgesetzten bis nach ganz oben unterstützt wird! Denn gegen eine gewachsene Autoritätsstruktur läßt sich gar nichts verändern, nur MIT ihr.
    Den weisen Lehrer braucht es dafür ebenso, wie den weisen Schulleiter und die weisen Vorgesetzten dieses Schulleiters.
    Nur das da keine falschen Eindrücke entstehen, ich habe hier keinerlei Ambitionen in der Richtung. 😉
    Ich denke, das wir in Deutschland noch immer leiden unter den Komplexen des zweiten Weltkriegs. Alles was auch nur entfernt nach Führung aussieht wird abgelehnt, weil es mit Macht ausgestattet ist, die potenziell Schaden anrichten kann. Dabei wird die positive Seite der Macht völlig in Abrede gestellt.
    Ein eine Führungskraft im Bildungssystem, die eine Strategie verfolgen und erarbeiten darf, kann mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet eine Menge Positives und Konstruktives bewegen. Das was die Macht begrenzt ist die Verantwortung und das wird immer wieder gerne in Deutschland abgelehnt.
    Verantwortung wollen in einer autoritätsorientierten Gesellschaft nur ganz wenige übernehmen, Macht schon mehr. Dabei geht das eine nicht ohne das andere, sonst kommt es zu Katastrophen wie WW2. Wenn man eine Analyse machen möchte, wie groß das Potenzial für eine richtig große deutsche Bildungskatastrophe ist, würde ich einmal systematisch analysieren, wer wieviel und welche Verantwortung tatsächlich trägt, also auch seinen Hut nehmen muss, wenn er Mist gebaut hat.
    Mein Beitrag ist kein Ruf nach Autorität und Führung, sondern einer nach Verantwortung, gepaart mit Führungskräften, die Lust auf Verantwortung haben und nicht in erster Linie Lust auf Macht.
    So gesehen: Es braucht einen Lehrer, der sich verantwortlich fühlt! Ja! Einen weisen Lehrer! Einen der bereit ist die Verantwortung zu tragen, wenn er richtigen Mist gebaut hat und einen der bereit ist sich feiern zu lassen, wenn er eine Innovation geschaffen hat.

  5. Hallo zusammen,
    stimme Helge in punkto „Weisheit und Verantwortung“ zu!! Dass wir erst die Gesellschaft verändern müssen, bevor sich was im Bildungsalltag tut, könnte eine ungünstige Folgerung aus dieser Diskussion sein. Ich meine, jeder kann ja in seinem kleinen Umfeld mit gutem Beispiel vorangehen: Wenn man „Führungsaufgaben“ welcher Art auch immer übernimmt, kann man seinen Beitrag leisten hin zu mehr Selbstbestimmung und weniger blinde Autoritätsgläubigkeit. Trotzdem muss es – z. B. auch bei mir an der Professur – halt mitunter sein, dass ich letztlich eine Entscheiduung treffe, die ich nicht immer partzipativ vorbereiten kann, bei der ich mitunter das Vertrauen der anderen brauche, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln und zu entscheiden. Es ist eine Gratwanderung – IMMER.
    Gabi

  6. hallo zusammen,
    leicht verzögert wurden mir die reaktionen auf meinen kommentar von meinem feed zugetragen – deshalb erst jetzt meine „antwort“ …
    nichts gegen verantwortliche führungsaufgaben in bestehenden strukturen – auch wenn mir der patriarchale unterton meist etwas aufstösst. dennoch halte ich es für notwendig, zumindest die möglichkeit in betracht zu ziehen, dass das real existierende formale bildungssystem vielleicht nicht unbedingt der weisheit letzter schluss sein MUSS.
    gerade wir information worker sind doch beweis genug, wie wenig es einer weisen lehrperson bedarf, sondern selbstbestimmtes lernen einen zu den themen FÜHRT, die persönlich relevant und diskursiv eine gesamtgesellschaftlich gewünschte option schaffen – fern von machtpolitischer gremienkultur.
    und insofern plädiere ich als bildungsziel weiterhin für die ausbildung konstruktiv genutzter wissensmedien (in allen facetten: technologie, diskurs, personen) – und weniger für eine gerichtete instruktion oder „weise“ moderation.
    macht korrumpiert – war immer so, wird immer so bleiben. die alten vorstellungen, es gäbe eine weise person, die über den gesamtgesellschaftliche werten und normen stehe und für sich beansprucht, den gang der welt zu organisieren, kann nicht funktionieren – auch nicht als „rat der weisen“!
    und erst recht nicht mehr in der sich beschleunigenden welt, in der wir leben. bestens illustriert von kerkhove (siehe die zweite grafik).
    so, genug der blasphemie 😉
    einen schönen tag noch,
    anja