In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Pädagogik findet sich ein aus meiner Sicht sehr interessanter Artikel von Ewald Terhart mit dem Titel „´Bildungswissenschaften´: Verlegenheitslösung, Sammeldisziplin, Kampfbegriff?“ (2012, Heft 1).
Ausgangspunkt ist Terharts Beobachtung, dass die zunehmende Verwendung des Begriffs Bildungswissenschaften, aber auch die Ausbreitung der „Bildungsforschung“ für Unruhe sorge und letztlich unklar sei, was damit gemeint ist. In der Folge unterscheidet Terhart drei grundlegende Varianten der Verwendung des Begriffs „Bildungswissenschaften“:
Variante 1 lautet: „Bildungswissenschaften in der Lehrerbildung“. Dies, so Terhart, sei eine „Verlegenheitslösung zur Benennung eines heterogenen Studienelements“ in den Lehramtsstudiengängen (S. 28). Variante 2 heißt: „Bildungswissenschaften als Sammelbezeichnung“. Dies sei einen Versuch, wissenschaftliche (Teil-)Disziplinen, die sich mit Bildung (und Ausbildung) beschäftigen, zu bündeln, ähnlich wie das beim etablierten Begriff der Sozialwissenschaften der Fall ist (wobei die Bildungswissenschaften dann eine Untergruppe der Sozialwissenschaften wären). Die dritte Variante ist: „Bildungswissenschaften als eine Bezeichnung, die für ein theoretisch und methodisch enger definiertes Verständnis bildungswissenschaftlicher Forschung steht“ (S. 29), nämlich für hypothesenprüfende Forschung via Experiment oder Korrelationsstudien. Terhart weist darauf hin, dass dies weitgehend dem aktuellen Verständnis von „empirischer Bildungsforschung“ entspreche. Dem stellt er ein Verständnis gegenüber, das auch für qualitative Forschung offen ist und deren Arbeit „theoriebezogen, problemorientiert und mit Blick auf mögliche oder bestimmte Anwendungskontexte durchgeführt“ wird (S. 29).
Zum verengten Verständnis von Bildungswissenschaften als empirische Bildungsforschung nach dem quantitativen Paradigma erteilt Terhart eine klare Absage: „Ich halte diese Begriffsverwendung für systematisch falsch, epistemologisch riskant und darüber hinaus im sozialen System der Wissenschaften nicht durchsetzbar. Als Kampfbegriff eingesetzt hat er keine Zukunft“ (S. 30). Gegen Ende des Textes bezeichnet Terhart den dazugehörigen Versuch als „unfreundlichen Übernahmeversuch“ bzw. als „konkurrenzgeleitete Ausgründung“ (S. 36).
Im weiteren Verlauf des Textes stellt Terhart eine Reihe von Thesen auf, die er kurz begründet. Unter anderem sagt er: „Als die Pädagogik vor Jahrzehnten durch ihre Transformation zur Erziehungswissenschaft Teilelement der Sozialwissenschaften wurde, gab es bereits ähnliche Debatten“ (S. 31). Zudem verweist auf folgende mögliche Entwicklung: „Wird von den Erziehungswissenschaftlern mit der Zuordnung zu den Bildungswissenschaften eine Psychologisierung der Disziplin befürchtet, so wird aus dem Kontext der Psychologie heraus der nächste Schritt vorbereitet“ (S. 33), nämlich die Etablierung einer neuen Teildisziplin der Psychologie unter der Bezeichnung Bildungspsychologie. Verweisen wird hier auf den Sammelband von Spiel, Schober, Wagner & Reimann (2010). Zu diesem Buch habe ich auch einen Beitrag geliefert, habe aber NICHT den Eindruck, dass von diesem wirklich eine „Gefahr“ für pädagogisch und didaktisch denkende Bildungswissenschaftler ausgeht.
Am Ende plädiert Terhart für empirische Studien, die dabei helfen, die tatsächliche Situation der Erziehungswissenschaft beurteilen zu können. Zudem macht er klar, dass er sich an „Grundsatzdebatten um einen Streit um Axiome, der nicht zu entscheiden und insofern unabschließbar ist“ nicht beteiligen möchte (S. 32). Man darf allerdings, so meine Ansicht, nicht vergessen, dass es hier nicht nur einen müßigen Streit geht, sondern dass die verschiedenen „Grundsätze“ eben nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern zu ungleichen Ressourcenverteilungen führen die wiederum Einfluss auf die „Sache“ nehmen, indem sie Entscheidungen von (Nachwuchs-)Wissenschaftlern massiv steuern.