Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Sich selbst ein Rätsel

In der aktuellen Ausgabe von Forschung und Lehre beschreibt und deutet der Soziologie-Professor Stefan Kühl die enorme Komplexitätssteigerung bei der Gestaltung von Bologna-Studiengängen. Dabei verwendet er eine einleuchtende Analogie: Das Sudoku-Rätsel. Dankenswerter Weise findet sich auf der Web-Seite von Stefan Kühl ein längeres Arbeitspapier zu diesem Thema, nämlich hier. Anbei die vorangestellte Zusammenfassung:

„Als „Sudoku-Effekt“ wird bezeichnet, wenn durch die Verknüpfung verschiedener vorgeschriebener Programmformen der Charakter einzelner Elemente festgelegt wird. In diesem Arbeitspapier wird argumentiert, dass bei der Konzeption von Studiengängen durch die vorgeschriebene Kombination von jeweils in Leistungspunkten ausgedrückten Profilen, Modulen, Veranstaltungen und Prüfungsformen die Anforderungen einer Zahlenarithmetik die inhaltlichen Überlegungen zu den Studiengängen überlagern. Die Dauer-Reform von Studiengängen im Rahmen des Bologna-Prozesses lässt sich damit erklären, dass die durch den Sudoku-Effekt produzierten Studiengänge den alltäglichen Anforderungen eines Studiums nicht mehr gerecht werden. Die permanenten informellen Abweichungen von den Studiengangstrukturen werden deswegen zum Anlass genommen, diese immer wieder zu reformieren. mit dem Lösen eines Sudoku-Rätsels verglichen.“

Ich kann der Analyse von Kühl nach meinen teilweise absurden Erfahrungen zur Studienganggestaltung an zwei Universitäten nur voll und ganz zustimmen: Man beginnt mit inhaltlichen Überlegungen und endet beim Zusammenrechnen von Punkten, verschiebt und tauscht Module und Veranstaltungen so lange aus, bis man bei der magischen Zahl 180 (Bachelor) bzw. 120 (Master) ist, und freut sich am Ende wie ein Buchhalter, wenn die Summe stimmt. Kühl ist darüber hinaus zuzustimmen, wenn er feststellt: „Kein Studiengangplaner eines Masters setzt sich hin und überlegt, wie er die Wahlmöglichkeiten für Studierende möglichst auf null reduzieren kann. Keine Arbeitsgruppe zur Studienreform entwickelt bewusst Strategien, um Studierenden im Rahmen ihres Studiums möglichst viele Kontakte zum Prüfungsamt zu ermöglichen. Kein Dekanat bringt bewusst eine Kurzbeschreibung eines Studienganges in die Fakultätskonferenz ein, die so kompliziert ist, dass die Details nur noch von den Spezialisten in der Studienberatung verstanden werden können.“ Die genannten und noch viele andere Effekte sind bittere Nebenwirkungen, die neue Probleme hervorrufen, für die man wieder neue Lösungen und Regeln braucht, die die Modulhandbücher dicker und dicker werden lassen.

Ein wichtige Ursache für die Komplexitätsexplosion sieht Kühl darin, dass immer mehr Ebenen in die Bologna-Studiengänge eingezogen wurden: Gab es vor Bologna die Ebenen Profile, Veranstaltungen und Prüfungen, haben wir heute Profile, Module, Veranstaltungen, Prüfungen und Leistungspunkte. Alles soll flexibel gestaltet sein, aber am Ende bitteschön exakt zusammenpassen. An sich hätte man durch reines Nachdenken schon die später empirisch nachweisbaren chaotischen Folgen vorhersehen kennen. Ich bin seit einiger Zeit Studiendekanin und Verantwortliche einer Studiengangkoordination, aber ohne Blick in FPO und Modulhandbücher komme ich immer noch nicht aus. Selbst die Umsetzung eigener Gedanken in diesem Gestrüpp kann einem ein paar Monate später ein einziges Rätsel sein.

Am Ende erweist sich vor allem das System ECTS nicht nur als besonders komplexitätssteigernder Faktor, sondern auch als ein Faktor, der die inhaltliche Komplexität eines Studiengangs schlicht ignoriert. Kühl formuliert das in seinem Arbeitspapier so:

„Die Anzahl von Modulen, die Zuweisung von Prüfungen zu den Modulen, die Bewertung von Modulen, Veranstaltungen und Prüfungen mit Leistungspunkten wird immer wieder verändert, um am Ende irgendwie genau auf die 180 und 120 Leistungspunkte zu kommen. Wenn man nur ausreichend verschiebt, modifiziert und neuberechnet, dann geht es am Ende irgendwie auf. Bloß: Genauso wie beim Sudokurätsel die Anordnung der Zahlen zwischen eins und neun letztlich willkürlich ist und nur durch die notwendige Vernetzung mit anderen Zahlenreihen begründet ist, wird dann auch die Anordnung von Modulen, Veranstaltungen und Prüfungen in Studiengängen häufig am Ende nur noch durch die durch die Leistungspunktlogik definierten Konsistenzanforderungen getragen.“

Das Schlimmste aber ist: Man spielt das mit! Man muss es mitspielen, wenn man nicht sein Amt abgeben will. Denn: „Dass das mit den Leistungspunkten stimmt, damit wir akkreditiert werden“ (so ein Satz, den ich in den letzten Jahren und Monaten sehr oft gehört habe) ist oberstes Credo der aus dem Boden sprießenden Stellen für Qualitätsmanagement und Evaluation, die sich zusammen mit dem Controlling und der Verwaltung von Drittmitteln längst zur eigentlichen Hochschulleitung gemausert haben. Dies ist denn auch ein Element des bürokratischen Teufelskreises, den Kühl wie folgt beschreibt: „Die Schaffung von immer mehr Regeln und die Zentralisierung von Entscheidungen an der Spitze der Organisation führe nicht nur zu Frustration, Distanzierung und Teilnahmslosigkeit bei den betroffenen Personen, sondern auch zu vielen wildwüchsigen lokalen Anpassungen. Auf diese reagiere die Organisationsspitze dann mit dem einzigen Mittel, das ihnen zur Verfügung steht: Mit dem Erlass neuer Regeln.“ Stimmt! So beobachte auch ich das. Was tun? Kühl empfiehlt die „Abschaffung sowohl der verpflichtenden Abbildung aller Veranstaltungen und Prüfungen in Form von Modulen als auch der verpflichtenden Berechnung aller Veranstaltungen, Prüfungen, Selbststudiumsphasen und Praktika in Leistungspunkten.“ Ich meine, die Abschaffung von Leistungspunkten, die nachweislich (auch meiner Erfahrung nach) ohnehin keiner realen Zeitinvestition entsprechen, würde die schlimmsten Probleme beseitigen und immerhin schon mal den Weg vom Sudoku-Rätsel zum semantisch nachvollziehbaren Kreuzwort-Rätsel ermöglichen.

5 Kommentare

  1. Leider muss ich der Aussage, dass die Leistungspunkte nicht dem zeitlichen Aufwand entsprechen, widersprechen. Zumindest bei der zu bewertenden Prüfungsleistung herrscht bspw. an der Uni Augsburg im Bachelor Sozialwissenschaften der Konsens, dass 2 LP grundsätzlich etwa einer schriftlichen Arbeit von 5 Seiten oder aber einem Referat entsprechen.
    Vielleicht ist ja dieser Studiengang die große Ausnahme, aber diese Regelung verhindert erfolgreich, dass für ein normales 6 LP Seminar als Leistungsnachweis ein Referat und darüber hinaus noch eine 25 seitige Hausarbeit verlangt werden (selbst schon erlebt) oder sich gar solche Seminare häufen und damit die Studierenden wirklich in Zeitnot bringen.

  2. Ihr Kommentar verweist eine Relation zwischen dem Umfang von Arbeitsergebnissen und Leistungspunkten. Das ist letztlich eine andere Rechnung. Denn wie lange ein Studierender für 5 Seiten oder 25 Seiten zur Ausarbeitung eines Themas bzw. zur Beantwortung einer Fragestellung benötigt, dürfte eine große Zeitspanne umfassen. Ich stimme zu, dass es sinnvoll ist, wenn man sich als Dozent überlegt, welchen Aufwand ein Studierende für eine gute Vor- und Nachbereitung sowie für Aufgabenbearbeitungen und damit auch Prüfungsleistungen in etwa benötigen sollte. Einen solchen Richtwert aus der Sicht des Hochschullehrers anzugeben, ist eine Hilfe für Studierende, um z.B. einzuschätzen, ob sie eventuell extrem länger oder extrem kürzer brauchen. Genau das wäre ein guter Anlass für Beratung, für das Erkennen von vielleicht ungünstigen Lern- und Arbeitsstrategien oder von oberflächlichem Verhalten. Ebenso kann das ein Anker für den Hochschullehrer sein, seine Einschätzungen zu überdenken, wenn deutlich wird, dass viele weit weg von seinem Richtwert sind. Aber dass Leistungspunkte, wie Kühl in seinem Artikel sehr gut deutlich macht (ich kann die Lektüre nur empfehlen), und die damit zusammenhängende Arithmetik zum Dreh- und Angelpunkt der Studienplanung geworden sind, obschon gerade LERNZEIT etwas sehr individuelles ist, ist aus meiner Sicht auf jeden Fall korrekturbedürftig.

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  4. Das an den Universitäten organisierte Bologna-Chaos hat erstaunliche Ähnlichkeiten mit der EU-Bürokratie in puncto Subventionen an die Landwirtschaft oder an den Umweltschutz. Umweltverbände designen ihre Förderanträge richtlinienkompatibel, in Sachen Bürokratie müssen sie aufrüsten: Controller werden angestellt, um die umfangreichen Dokumentationspflichten einer Fördermaßnahme peinlich genau zu beachten, das können die eigentlichen Umweltschützer nämlich so gar nicht leisten. Fazit: Die Inhalte einer Maßnahme werden zum Mittel für den Zweck der Bürokrtie.

  5. Pingback: Was ist eigentlich: der “Sudoku-Effekt”? | Sandra in the Sky