Im Urlaub (viel zu kurz dieses Jahr und bereits gefühlte Monate zurückliegend) habe ich einen interessanten Artikel von Michael Potter gelesen:
Potter, M.K. (2013). Constructivism in the Shadow of a Dead God. International Journal for the Scholarship of Teaching and Learning, 7 (1), online hier zugänglich.
Es ist nicht ganz einfach, die Kernbotschaft dieses Beitrags zusammenzufassen, aber ich versuche es mal:
Der „tote Gott“ ist der Objektivismus bzw. alles, was man darunter so subsumiert: der Glaube an die eine Wahrheit, eine Vorstellung von Wissenschaft, die Fakten hervorbringt, und damit eine Auffassung von Lehre, die davon ausgeht, dass Lehrende wissend sind und in ihren Veranstaltungen dieses Wissen an die Studierenden weitergeben, die schließlich dahingehend überprüft werden, ob sie dieses Wissen auch wiedergeben, bestenfalls auch anwenden können. Diesen Gott – so Potter – betet keiner mehr an, es würde lächerlich wirken. Stattdessen haben wir einen „neuen Gott“, und der heißt Konstruktivismus. Das Vertrackte aber ist, dass wir diesen neuen Gott unter den alten, nach wie vor herrschenden Bedingungen des alten, tot geglaubten Gottes, anbeten, und das schafft Probleme: An den Hochschulen herrschen die gleichen Strukturen wie früher, als es den alten Gott noch gab: Veranstaltungen, die mit Prüfungen enden, die sich planen und auch neuerdings in ihrem „Workload“, also Arbeitsaufwand gemessen in Stunden, berechnen lassen. Potter erläutert in seinem Aufsatz die Widersinnigkeit, die sich daraus ergibt. Er macht das anhand eines eigenen Beispiels: Das Beispiel skizziert den Versuch, ein aufwändiges, problemorientiertes, auch forschungsorientiertes, Lehr-Lernszenario unter den nach wie vor bestehenden restriktiven Bedingungen an Hochschulen umzusetzen. Sein Fazit: Das funktioniert nicht! Vor einiger Zeit hatte ich auf einen Beitrag von Stefan Kühl hingewiesen (siehe hier), der Ähnliches berichtet.
Potters Schlussfolgerung im Original: „If constructivism is to succeed as an educational philosophy, it must move beyond shaping pedagogy and curricula; it must shape the structures and assumptions within which pedagogy and curricula operate. Change at the surface level, the level of pedagogies and methodologies is necessary but insufficient. The foundations laid in honor of the old god must be torn to pieces, new foundations laid in their place, for new scaffolding and new edifices. Objectivism’s corpse must be utterly destroyed, so that we no longer live within its calcified skeleton. New contexts, new conditions, new concepts must be created if surface pedagogies are to help students become the deep, autonomous, reflective learners we know they can be.“
Ich fand den Text lesenswert – er regt zum Nachdenken an, denn: In der Tat scheitern viele gute Konzepte häufig an der “Struktur”, also an den nicht unmittelbar zu ändernden Rahmenbedingungen. Die Gegenüberstellung von „Objektivismus“ und „Konstruktivismus“ aber erscheint mir im Bildungskontext schon seit längerem wenig fruchtbar und eher dazu geeignet, unnötige Fronten aufzubauen (was dann zur unsäglichen Gegenüberstellung von Instruktion und Konstruktion führt). Richtig aber ist sicher eines: Ganz oft werden die Dinge einfach nicht zu Ende gedacht.