Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Widerstand und Dialog

Wie sieht die Universität, wie sehen die Hochschulen in der Welt in zehn, zwanzig Jahren aus und was, so eine weitere Frage, wäre wünschenswert? Mit diesen Fragen beginnt Dieter Lenzen ein gerade erschienenes schmales Bändchen (von knapp 100 Seiten) mit dem Titel: Eine Hochschule der Welt. Plädoyer für ein Welthochschulsystem (2015 Wiesbaden: Springer VS).

Ausgangspunkt der Argumentation ist der Globalisierungsprozess, der zurzeit in hoher Geschwindigkeit erfolge, „ohne dass demokratisch legitimierte Organisationen ihn international steuern würden“ (S. 9). Vor dem Hintergrund dieses Globalisierungsprozesses arbeitet Lenzen drei große (Hochschul-)Bildungssysteme heraus, nämlich das kontinentaleuropäische, das atlantische und das ostasiatische.

Um die drei Systeme zu verstehen, führt Lenzen zum einen ausführlicher aus, wie sich in diesen das Verhältnis von Berufsbildung und Hochschulbildung darstellt und inwiefern hier speziell Deutschland eine besondere Situation (nämlich eine starke duale Berufsausbildung) vorweist. Zum anderen widmet er sich dem Verhältnis von Forschung und Lehre, denn auch hier zeichnet sich vor allem das deutsche System dadurch aus, dass Forschung integraler Bestandteil des Hochschulverständnisses, also nicht auf „research universities“ beschränkt ist. Zudem geht Lenzen genauer auf die Genese der drei Systeme ein, deren Analyse vor allem zeige, dass sie gleichzeitig durch Konvergenzen und Divergenzen charakterisiert sind (S. 41). Im Verlauf des Buches zieht Lenzen insgesamt sechs Kategorien heran, anhand derer er die drei Bildungs- inklusive Wissenschaftssysteme und deren dahinter liegenden universitären Grundkonzepte mit Blick auf diese Konvergenzen und Divergenzen vergleicht: die Theorie der Universität – der Bildungsbegriff – der Hochschulzugang – die Hochschulautonomie und akademische Freiheit – die Differenzierung im postsekundaren System – die Hochschulfinanzierung.

  1. Für die Theorie der Universität kommt Lenzen zu dem Schluss, dass es eine hohe Konvergenz unter dem Zeichen des atlantischen System gibt, „die durch eine Ökonomisierung von Forschung (und Lehre) gekennzeichnet ist“ (S. 46).
  2. In Bezug auf den Bildungsbegriff stellt Lenzen eine „hohe Konvergenz zwischen dem atlantischen und dem ostasiatischen System in Bezug auf die spezifische Verständnisausprägung von allgemeiner Bildung als liberal education im kanonischen Sinne“ (S. 53) fest, was verstärkt werde durch die sich ausbreitende englische „Wissenschaftssprache“. „Insofern ist vor einem akademischen Neokolonialismus zu warnen, der im Gewand der durchaus humanitärer Zielvorstellungen keine Persönlichkeiten entstehen lässt, die durch ´Hingabe an die Sache´ (Schleiermacher, Horkheimer) gebildet werden, sondern das standardisierte ´Allgemeine´ in sich selbst mimetisch abbilden“ (S. 53).
  3. Was den Hochschulzugang betrifft, konstatiert Lenzen eine erhebliche Divergenz des deutschen Wegs im Vergleich zum atlantischen und ostasiatischen, die sich beide konvergent entwickeln (Zugang über hohe Kosten und/oder umfangreiche Auswahlprozesse).
  4. Eine starke Konvergenz sieht Lenzen bei der Kategorien der akademischen Freiheit, wenn er schlussfolgert, dass in allen drei Systeme die individuellen Freiheitsrechte erheblich eingeschränkt werden, während mit Blick auf die Hochschulautonomie eher eine unübersichtliche Situation herrsche.
  5. Bei der Differenzierung im postsekundaren System erkennt Lenzen eine „Konvergenz zwischen dem heutigen kontinentaleuropäischen und dem ostasiatischen System in Bezug auf die Generierung signifikanter Differenzen zwischen Elitebildung und Exzellenzforschung auf der einen Seite und zwischen Berufsausbildung und vielleicht eher angewandter Forschung und Entwicklung auf der anderen Seite“ (S. 66).
  6. Was schließlich die Hochschulfinanzierung angeht, so zeigt der Systemvergleich eine hohe Konvergenz des atlantischen und ostasiatischen System dahingehend, dass die Abhängigkeit von nicht-öffentlichen Mitteln ein erhebliches Ausmaß habe, was zwar auch in Europa spürbar wird, aber nicht in vergleichbarem Umfang.

Die Kernfrage des Buches ist, wie sich das Verhältnis der drei universitären Grundkonzepte angesichts dieser Konvergenzen und Divergenzen weiter entwickeln wird: Wird es bei einer Ko-Existenz bleiben (falls von einer solchen noch die Rede sei kann) oder wird eines der Systeme (nämlich das atlantische) dominant werden und die anderen beiden unterordnen oder (so das Plädoyer von Lenzen) findet sich ein gemeinsamer Weg eines Welthochschulsystems, „das einerseits auf Konsens über ein Set von Grundregeln des Wissenschaftssystems beruht und gleichzeitig divergente Auslegungs- und Verwirklichungsformen zulässt, die der Diversität von Regionen, Milieus und kulturellen Praktiken gerecht wird“ (S. 28)? Wenn es, so Lenzen, keine ordnende Intervention gibt, dann sei eine „Atlantifizierung“ naheliegend, also eine Konvergenz zu einem Welthochschulsystem, das atlantisch dominiert sein wird (S. 72). Vor allem werde dann das öffentlich Gut Bildung weiter privatisiert und nicht mehr als öffentliche Aufgabe gesehen, „sondern als Ort verstanden, an dem Lernende sich für ihren Lebenslauf Vorteile verschaffen“ (S. 72); zudem werde sich das Wissenschaftssystem zu einem Subsystem des Wirtschaftssystems wandeln.

Eine Zielvorstellung ist genau das für Lenzen nicht: Eine Eingliederung des Wissenschaftssystems in das Wirtschaftssystem müsse vielmehr beendet werden. Zudem würden nicht nur Naturwissenschaft und Technik vor zahlreichen Herausforderungen stehen, die nach wissenschaftlichen Lösungen verlangen. Es gäbe auch viele soziale Herausforderungen großen Ausmaßes, für die wir wissenschaftliche Lösungen brauchen und die wiederum nach gebildeten Persönlichkeiten verlangen. „E gibt keine intelligentere Konstruktion für ein globales Wissenschaftssystem als die Verpflichtung auf eine humane Weiterentwicklung von Gesellschaft und Menschheit, wie sie im ostasiatischen Harmonieideal und in der kontinentaleuropäischen Bildungsidee angelegt war und ist!“ (S. 81). Auch die „liberal education“-Idee ließe sich hier (was an anderer Stelle des Buches nicht ganz so eindeutig ist) letztlich integrieren: „Im Medium der Bildung/liberal education ist Konvergenz im globalen Maßstab also möglich“ (S. 83). Eine weitere globale Aufgabe sei es, die Freiheit des Lehrens, Lernens und Forschens, wie es in Deutschland verfassungsrechtlich verankert ist, „weltweit durchzusetzen“ (S. 84). Und eine solche Freiheit gäbe es nicht graduell – diese „ist entweder total oder nicht existent“ (S. 85). Das verbiete denn auch eine „inneruniversitäre Qualitätspolizei“ (S. 85). Stattdessen setzt Lenzen auf Kritik, also auf ein wissenschaftsimmanentes Merkmal: „Eine Wissenschaft ohne Kritik ist keine Wissenschaft; insofern muss es selbstverständlich sein, sich auch über die Grenzen der Systeme hinweg der Kritik zu stellen“ (S. 86).

Das Fazit am Ende der Schrift fordert noch einmal den Einsatz auch jedes Einzelnen im Hochschulsystem: „Gegenüber dem atlantischen Konzept ist, in aller Klarheit, für die Länder der kontinentaleuropäischen und ostasiatischen Tradition Widerstand in dem Sinne erforderlich, dass die Gesetze des Marktes, die Bildung als Ware und Grundlagenforschung als Kapitalinvestition deuten, nicht weiter Platz greifen dürfen. […] In diesen Jahren der kritischen Entwicklung eines Welthochschulsystems dürften weniger wohlfeile Papiere von globalen NGOs angezeigt sein, die es allen recht machen wollen, als Aktivitäten innerhalb der Hochschulen und innerhalb der Regionen und Nationen, durch die Mitglieder der Einrichtungen. Diese müssen sich bei ihrem Begehren wie bei ihren Plänen darüber klar werden, dass ihre Aktivitäten Bestandteil eines globalen Prozesses sind, indem zweitweise Widerstand und Dialog Hand in Hand gehen müssen.“ (S. 92).

Ich kann dem Text in sehr vielen Punkten zustimmen. Ich finde es auch gut, dass derartige Texte im Moment entstehen. Schade ist, dass sie nicht besser verfügbar sind – gerade im Zuge der vor kurzem angekündigten Hamburg Open Online University (z.B. hier) wäre ein offener Zugang zu solche einer Schrift nun wirklich wünschenswert 🙂

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