Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Schreiben für die Lehre: nur was für Alte und Anfänger?

Wer schreibt heute eigentlich noch Lehrbücher? Ich meine jetzt nicht Sammelbände mit Einführungscharakter, in denen einzelne Kapitel verschiedener Autor/innen nur lose zusammenhängen, sondern Bücher, die strukturierend und sozusagen navigierend in eine (Teil-)Disziplin einführen und „aus einem Guss“ sind. Wer also schreibt solche Lehrwerke und wer soll sie schreiben? Der wissenschaftliche Nachwuchs, der sich noch in den Anfängen der Karriere befindet, sagen die einen. Die „Alten“, die nichts mehr beweisen müssen, sagen die anderen. Und ist das gut so? Ich finde nein. Wenn ich richtig informiert bin, dann gibt es schon noch Disziplinen, in denen größere Lehrbücher als anerkennenswerte Publikationen gelten, die Einfluss auf ein Fach nehmen und den Autoren Renommee bescheren, wenn sie sich denn durchsetzen (z.B. in der Rechtswissenschaft). In anderen Disziplinen dagegen gelten Lehrbücher eher als Fleißarbeit, in denen gesammelt und zusammengestellt wird, was es schon gibt, ohne dass von diesen eine die (Sub-)Disziplin irgendwie beeinflussende Wirkung ausgeht (z.B. in der Psychologie).

Nun erlaube ich mir für andere Disziplinen kein Urteil, weil die beiden genannten (und wohl weitere) Positionen wohl in der Tat mit dem Aufbau, der Entwicklung und Kultur einer Wissenschaft zu tun haben. Für die Erziehungs-/Bildungswissenschaft und ihre Subdisziplinen halte ich Lehrwerke allerdings für wichtig, und finde, dass diese nicht nur von Wissenschaftler/innen geschrieben werden sollten, die noch am Anfang oder bereits am Ende ihrer Laufbahn stehen. Ich denke, dass Einführungen einen großen Einfluss haben und ohne eine eigene Positionierung des Autors gar nicht verfasst werden können: Allein die Auswahl der Inhalte, deren Umfang und Art der Darstellung sind ja immer auch Interpretationsleistungen und letztlich Werturteile, die nicht nur an Novizen weitergegeben werden, sondern ebenso an Fortgeschrittene und Peers. Ich lese z.B. gerne Einführungen, weil mich interessiert, wie Wissenschaftler/innen Studierenden einen Zugang zu ihrer Disziplin geben, was sie als wichtig herausstellen, wie sie die als wichtig erachteten Aspekte kategorisieren, was sie als „noch wissenschaftlich“ hinzunehmen und was sie weglassen, wo sie absolut und wo relativ argumentieren etc.

Warum schreibe ich das? Weil ich kürzlich mal wieder eine Einführung gelesen habe, nämlich:

Koller, H.-C. (2014). Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. (7., durchgesehene Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.

Die erste Auflage dieser Einführung erschien 2004; das heißt, dass Koller das Lehrbuch im Taschenbuchformat seit zehn Jahren aktualisiert, und das auf der Basis der eigenen Lehre. Koller selbst dazu: „Dieses Buch geht nicht nur auf meine persönlichen Erfahrungen als Hochschullehrer zurück […], sondern ist auch im Kontext einer hochschulpolitischen Debatte entstanden, die unter der Überschrift ´Kerncurriculum Erziehungswissenschaft´ geführt wurde und wird.“ (S. 15). Ein solches Kerncurriculum sei auch an der Universität Hamburg entstanden – in Form eines Rahmenkonzepts. „Das vorliegenden Buch stellt nun meine Version einer Ausgestaltung dieses Rahmenkonzepts dar, die auf mehreren Vorlesungen und Seminaren beruht, die ich seit 2001 an der Universität Hamburg durchgeführt habe“ (S. 17).

Daran sieht man: Gute Einführungen sind nicht eben mal so hingeschrieben, sondern basieren auf einem großen Fundus an Wissen, aber eben auch Erfahrung im Umgang mit Studierenden. Wie man daher auf die Idee kommen kann, Lehrbücher sollten doch vor allem die „Anfänger“ schreiben, erschließt sich mir leider überhaupt nicht.

Kollers Einführung besteht aus zwei Teilen: dem umfangreichere Teil I zu Grundbegriffen und Theorien, in dem sich der Autor mit Erziehung, Bildung und Sozialisation auseinandersetzt, und dem etwas kleineren Teil II zu Methoden, in dem er empirische, hermeneutische und kritische Ansätze aufnimmt.

Koller arbeitet exemplarisch: So behandelt er etwa den Erziehungsbegriff sowohl nach Kant (Erziehungsbegriff der Aufklärung) als auch nach Brezinka und Kron (Erziehungsbegriff der Gegenwart), den Bildungsbegriff nach Humboldt (Bildungsbegriff des Neuhumanismus), aber auch den nach Horkheimer und Klafki (Bildungsbegriff der Gegenwart) und schließlich den Sozialisationsbegriff nach Durkheim (Anfänge der Sozialisationstheorie) sowie den nach Bourdieu (Sozialisationsbegriff der Gegenwart).

Es geht Koller, wie er selber in der Einleitung (S. 17 f.) schreibt, darum, einen Überblick mit einer exemplarischen Vertiefung zu verknüpfen – was ihm meiner Einschätzung nach sehr gut gelingt. Die exemplarische Vertiefung aber ist mehr als eine bloße Auswahl: Sie prägt natürlich auch das Bild von der Erziehungs-/Bildungswissenschaft, das Koller vermittelt. Diese Entscheidungen beim Schreiben generieren immer auch etwas Neues: neue Verbindungen, neue Einsichten. Von daher kann das Verfassen eines Lehrbuchs, so meine Einschätzung, prinzipiell einen wichtigen Beitrag zur jeweiligen Disziplin liefern – jenseits der „nur“ didaktischen Aufbereitung ausgewählter Inhalte für Studierende.

Des Weiteren möchte Koller mit seiner Einführung eine sachliche Darstellung liefern, die dargestellten Inhalte aber auch kritisch etwa hinsichtlich Reichweite und Grenzen hinterfragen. Auch das, so denke ich, wird sehr gut erreicht. Und auch das ist eben mehr als nur eine Fleißarbeit, denn auf diesem Wege werden mitunter neue kritische Fragen gestellt, neue Antworten oder Vorschläge entwickelt, die ebenfalls über die bloße Tradierung des Bekannten hinausgehen können.

Schließlich soll die Einführung, so Koller, nicht nur wissenschaftliche Begriffe, Ansätze und Methoden liefern, sondern auch einen Bezug zu Handlungssituationen in der Praxis von Erziehung und Bildung herstellen. Hier nun verzichtet Koller auf die üblichen Lehrbuchkästen mit Bespielen (die meist ein wenig langweilig sind), sondern wählt ein anderes Verfahren, das ich erst kritisch beäugt habe, das mich im Verlauf der Lektüre aber voll überzeugt hat: Er zieht den Roman „About a boy“ des britischen Autors Nick Hornby heran und holt sich daraus diejenigen Beispiele, die geeignet sind, abstrakte Darstellungen zu veranschaulichen und/oder zu exemplifizieren. Interessanterweise funktioniert das, auch ohne den Roman vorab zu kennen.

Mein Fazit: Es ist an der Zeit, wieder reflektierter über verschiedene Genres wissenschaftlicher Publikationen zu diskutieren. Es geht mir hier nicht nur darum, dass man in der Diskussion um die wissenschaftliche Publikationspraxis die gegenwärtig sehr einseitige Fixierung auf den Fachartikel mit Double Blind Peer Review in einem (natürlich englischsprachigen) Journal mit „hohem Impact Factor“ überdenken und auch andere Formen der Veröffentlichung einbeziehen müsste. Es geht mir auch und explizit darum, das „Schreiben für die Lehre“ nicht nur unter dem Blickwinkel der Vermittlung, sondern auch unter dem der Erkenntnis zu betrachten und in diesem Zusammenhang das Potenzial wieder ins Spiel zu bringen, das dem Produzieren und Rezipieren von Lehrwerken innewohnt.

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