Forschungsorientierung in der Studieneingangsphase (FideS) ist das Thema unseres Forschungsprojekts im Rahmen des Programms Begleitforschung zum Qualitätspakt Lehre. Eine unserer Fragen im Rahmen dieses Projekts dreht sich um das Verständnis und die Ausprägung der Forschungsorientierung in der Lehre in Abhängigkeit von verschiedenen Disziplinen. Um hier ein Stück weiter zu kommen, haben wir unter dem Titel „Forschendes Lernen und Wissenschaftsdisziplinen“ am Dienstag einen Expertenworkshop mit rund 30 Personen veranstaltet, die in verschiedenen Rollen mit dem Thema beschäftigt sind: als Lehrende, als Koordinatoren oder Mitarbeiter im Qualitätspakt Lehre, als Forschende. Wir sind mit vielen Fragen und Interessen in den Workshop gegangen:
Wie unterscheiden sich Disziplinen in der Konsensfähigkeit ihres Wissenskanons (für die Lehre)? Welche Relevanz haben Wissenschaftstheorie und methodologische Diskussionen in den verschiedenen Disziplinen? Wie wird in den Disziplinen geforscht? Welcher Art sind die Ergebnisse verschiedener Formen von Forschung? In welchem Verhältnis stehen Wissenschaft und Forschung? Was hat Forschung in verschiedenen Disziplinen mit Praxis, mit Diskurs, mit Ausprobieren und Konstruieren sowie mit Professionalisierung zu tun? Und was bedeutet all das für Forschungsorientierung in der Lehre und mit welchen besonderen Auswirkungen für Forschungsorientierung in der Studieneingangsphase? Welcher Anspruch wird in den verschiedenen Disziplinen an studentische Forschung gestellt? Was folgt daraus für didaktische Entscheidungen im Rahmen forschungsorientierter Lehre? Welche Formen forschungsorientierter Lehre kristallisieren sich mit verschiedenen Typen von Forschung heraus? Es war klar, dass wir diese Fragen nicht alle an einem Workshop beantworten konnten. Die Fragen bildeten auch eher den Rahmen für Kleingruppen- und Plenumsdiskussionen und für zwei Vorträge, die bald als Video zur Verfügung stehen werden.
Marco Schmitt von der RWTH Aachen referierte Strategien und Erkenntnisse aus der empirisch arbeitenden Wissenschaftssoziologie. Stark im Gedächtnis geblieben sind mir seine Hinweise darauf, dass Soziologen aktuell vor allem wissenschaftliche Produktionsgemeinschaften untersuchen – eine Einheit, die wesentlich kleiner ist als die Einheit der Fachgebiete (oberste Ebene) und die der Disziplinen (zweite Ebene), deren Grenzen ohnehin zunehmend weicher werden würden. Im Fokus der wissenschaftssoziologischen Forschung stehen derzeit Forschungspraktiken und Kommunikationsstile. Schmitt stellte unter anderem fest, dass die Naturwissenschaft immer stärker zum Standard für viele Wissenschaften werde. Noch gäbe es Fachgebiete und Disziplinen, die einen hohen Grad an Pluralismus etwa an methodischen Zugängen zu ihren Gegenständen pflegten. Der Trend hin zu Messbarkeit und Vergleichbarkeit wissenschaftlicher Standards aber sei ausgeprägt und werde dominanter.
Unser zweiter Referent, Rüdiger Rhein von der Universität Hannover, wählte einen gänzlich anderen Zugang zu unserem Thema und widmete sich der Frage nach den Eigenstrukturen von Wissenschaft. In seinem Vortrag stand im Fokus des Interesses, was Wissenschaft (du nicht einzelne Disziplinen) auszeichnet, was also verschiedene Disziplinen eint und welche Bedeutung das für ein akademisches Studium hat. Als historisch situierte Praxis des Vernunftgebrauchs zu Erkenntniszwecken sei Wissenschaft ein epistemisches Projekt und eine Sinnressource. Und genau das müsse sich in der Strukturlogik eines akademischen Studiums wiederspiegeln. Forschendes Lernen – und das wurde dann auch in der Diskussion nach dem Vortrag noch einmal klar – ließe sich als eine Art Renaissance solcher Suchbewegungen nach einem akademischen Studium deuten.
Beide Vorträge zusammen, so mein Eindruck, machten sehr gut zwei notwendige Sichtweisen auf die Frage nach dem Zusammenhang von Forschung, Lernen und Lehre deutlich: zum einen eine empirische Sichtweise, weil man natürlich erkennen muss, was ist, also wie sich die Wissenschaft und ihre Disziplinen und Forschergemeinschaften ebenso wie die Lehre entwickeln; und zum anderen eine eher hermeneutische Sichtweise, weil man ebenso reflektieren muss, was sein kann oder soll, also wohin sich die Wissenschaft und ihre Disziplinen und Forschergemeinschaften ebenso wie die Lehre aus welchen Gründen entwickeln sollten.
In Kleingruppen haben wir versucht, genauer auf Fragen der spezifischen Forschungspraxen, -ansprüche und -standards und deren Folgen für eine forschungsorientierte Lehre in den Ingenieurwissenschaften, den Geisteswissenschaften, den Sozialwissenschaften und in der Lehrerbildung einzugehen (das sind die Fachgebiete, auf denen in FideS der Akzent liegt). Deutlich wurde hier: ES gibt große Unterschiede darin, (a) in welchen Phasen eines Forschungsprozesses Studierende selbständig agieren sollten, um von einer Forschungsorientierung sprechen zu können, (b) welche Qualität der Anlass für einen Forschungsprozess haben kann (z.B. eine selbständig formulierte erkenntnisleitende Frage versus eine vorgegebene Aufgabe zur Lösung eines Problems), und (c) welcher Art das resultierende Artefakt ist (z.B. ein Text versus eine physisch greifbare Problemlösung). Diese Unterschiede haben, so zeigte sich, in der Tat mit der Forschungspraxis und dem Kommunikationsstil sowie mit Anforderungen an Forschung einer Disziplin (oder Forschergemeinschaft) zu tun. In der Studieneingangsphase machen sich diese Unterschiede besonders bemerkbar, wenn es darum geht zu entscheiden, ob studentische Teilhabe an Wissenschaft im Sinne der Forschungsorientierung machbar und sinnvoll erscheint oder nicht. Dazu kommen unterschiedliche Ansprüche an die Voraussetzungen zum Forschen sowohl personaler Art (was muss man schon wissen und können, um überhaupt forschen zu können?) als auch infrastruktureller Art (welche Geräte, Technologien und sonstige Ressourcen sind für die Forschung erforderlich?).
Was alle Disziplinen eint, ist die Unsicherheit angesichts der Vielfalt aktueller Begriffe rund um die Forschungsorientierung in der Lehre. Ebenso zeichnete sich ein Konsens in der Folgerung ab, dass bisherige Idealmodelle forschenden Lernens im Sinne des „Lernens durch Forschen“ eine sozialwissenschaftliche Verzerrung aufweisen. In unserem Verbundtreffen am Tag nach dem Expertenworkshop haben wir länger darüber diskutiert, ob man im Sinne Rüdiger Rheins generische Begriffe für die Eigenlogik von Forschung finden kann, welche die Unterschiede in der Realität des Forschungshandelns überwinden. Diese Frage konnten wir aber noch nicht abschließend klären und wird uns wohl noch ein wenig beschäftigen.