Gestern hatte ich mit einer kleinen Gruppe von Teilnehmern aus unserem Masterstudiengang (die meisten von ihnen selbst in der Lehre tätig) eine Online-Sitzung. Nicht zum ersten Mal hörte ich in dieser Runde die Klage, Studierende würden nicht mehr lesen oder lesen wollen, zumindest aber nicht gerne und ohne echte Überzeugung wissenschaftliche Texte lesen, die Lektüre also eher als Last empfinden. Aber selbst wenn Lehrende wieder zu Studierenden werden, kann die Lektüre wissenschaftlicher Texte ein Problem werden, zumindest aber Fragen aufwerfen: Ist die Auswahl sinnvoll? Was bringt mir das? Ist das nicht zu viel? Muss das so kompliziert geschrieben sein?
Eine passende Textauswahl für heterogene Zielgruppen zu finden, ist ausgesprochen schwierig. Ich empfinde es jedenfalls immer wieder als große Herausforderung und bemühe mich, mir selbst und den potenziellen Leserinnen zu begründen, warum ich diesen oder jenen Text als relevant erachte. Der vorliegende Impact Free-Artikel (hier der direkte Link und hier der Link zur Übersicht der bisherigen Beiträge) zeigt exemplarisch, für welche Texte ich mich warum zum Einstieg in die Hochschuldidaktik im Rahmen unseres reformierten Masterstudiengangs entschieden habe. Vielleicht hat der eine oder andere ja tatsächlich Lust auf die Lektüre.
19. November 2016 um 11:06
Liebe Frau Reinmann,
vielen Dank für Ihren Beitrag. Wir alle lesen. Tag für Tag. Nur halt nicht alles, sondern: aus Interesse oder zum Vergnügen.
Übrigens: Nach Erfahrung des „New York Times“-CEO Mark Thompson (http://sz.de/1.3238064) werden auch auf den vergleichsweise kleinen mobilen Endgeräten durchaus lange Artikel und Reportagen gelesen. Am Medium liegt es nicht. Hauptsache der Stoff ist spannend. Wissenschaftliche Texte können da in der Regel nicht mithalten. Das ist auch in Ordnung so. Unterstützen möchte ich nichtsdestoweniger den Impuls von Arnd Brummer: schreibt endlich Klartext! (https://chrismon.evangelisch.de/blog/was-ich-notiert-habe/32745/arnd-brummer-redet-und-schreibt-endlich-klartetext-gegen-substantivierung-wissenschaft)
Die Frage ist doch aber: Inwiefern ist ein Text in diesem oder jenem Kontext nicht beliebig, sondern zielführend oder horizonterweiternd ausgewählt? Auf welches Problem antwortet dieser oder jener Text? Ihr Vorgehen, zu jedem Text eine Begründung “Warum habe ich diesen Text ausgewählt?” zu formulieren, macht die ganze Sache transparent. Gute Sache.
Beste Grüße
CG
19. November 2016 um 14:24
Obwohl ich sonst eigentlich eher gegen die Trennung von „wissenschaftlich“ und „privat“ argumentiere, denke ich, dass die Unterscheidung beim Arbeitsmodus schon Sinn macht:
Wenn ich mich für ein universitäres berufsbegleitendes Studium entscheide, dann entscheide ich mich doch auch für eine Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Themen — das ist ja klar. Diese Auseinandersetzung kann natürlich mündlich stattfinden (auf Tagungen, Konferenzen, in einem didaktischen Rahmen etc.). Ich würde aber schon so weit gehen und sagen, dass sie zum größten Teil über Textlektüre erfolgt. (Zumindest kenne ich das aus dem Bereich, aus dem ich komme, so.)
Nun lassen sich wissenschaftliche Zusammenhänge in den seltensten Fällen mit demselben Rezeptionsverhalten erschließen, mit dem ich einen „New York Times“-Beitrag oder den Sinn eines Blogposts erfassen kann. Das muss gar nicht an der sprachlichen Darstellung liegen. Auch prägnant formulierte und stilistisch konzise wissenschaftliche Texte können „schwer zu lesen“ sein. Häufig meinen wir mit dem Ausdruck, dass wir uns anstrengen müssen, einiges an kognitivem Aufwand benötigen, um ein Argument zu verstehen oder einen Sinnzusammenhang zu erfassen; oder auch mal mehr Zeit benötigen, um die Bezugstexte, auf die in einem Beitrag verwiesen wird, nachzuschlagen; uns vertiefter einzuarbeiten…
Aber ziehen wir nicht gerade aus dieser Anstrenung auch immer wieder neue Lernerlebnisse? Macht das (die eigenständige vertiefende Lektüre) letztlich nicht vielleicht sogar einen relevanten Unterschied des universitären Lernens gegenüber Lernen in anderen Kontexten aus? Oder ist das angesichts der Bedingungen, unter denen Lehren und Lernen an der Universität heute stattfindet, einfach eine ziemlich altmodische Perspektive?
20. November 2016 um 07:35
Hallo zusammen. Vielen Dank erst mal für die beiden interessanten Kommentare!
Ich bin ja der Meinung, dass sich Verständlichkeit und Fachwissenschaftlichkeit nicht grundsätzlich ausschließen. Es gibt nun mal (zu Recht) Fachbegriffe und in Fachtexten kann man nicht verlangen, dass alle Fachbegriffe wie in einem Lexikon erklärt werden, wenn diese zum gängigen Vokabular einer Fachwissenschaft gehören. ABER: Fachbegriffe sind etwas anderes als Fremdwörter, für die es auch einfachere Formulierungen gäbe, etwas anderes als umständliche Satzkonstruktionen, Nominalisierungen und Passivstil. Ich weiß nicht, wie viele Sätze ich von Doktoranden und Mitarbeitern schon augenzwinkernd mit einem Hinweis korrigiert habe, wie schön der Satz doch wäre, wenn man ihn aktiver, kürzer, einfacher und in der Folge klarer formulieren würde. Denn es sind nicht nur die Professoren, die den unverständlichen Stil mitunter pflegen, sondern oft auch der wissenschaftliche Nachwuchs – vielleicht aus der Sorge heraus, sonst nicht wissenschaftlich genug zu sein.
Aber auch das Einfache hat freilich Grenzen. Manches lässt sich eben nicht ohne Vorkenntnisse verstehen und dann ist Mehrarbeit vonnöten. Und auch ein langer Satz kann mal erforderlich, ja sogar ästhetisch und mit etwas Konzentration verständlich sein. Rezepte (für das Schreiben) sind da also schwierig. Aber Bemühen und Mut zur Verständlichkeit unterstreiche ich selber sehr gerne! Nichtsdestotrotz kann es auch mal sehr erhellend ein, wenn man sich mit Texten befasst, um bedeutende (z.B. für eine Disziplin bedeutende) Inhalte zu rezipieren, selbst wenn der Autor leider keinen Ehrgeiz hatte, es für alle möglichst verständlich zu machen. Da muss man sich halt entscheiden, ob es sich lohnt oder ob man es lieber bleiben lässt. 🙂
11. Dezember 2016 um 10:58
Eben bin ich über einen Blogbeitrag gestolpert, der eine ganz interessante Begründung für das Phänomen gibt, dass manchmal von Studierenden über eine (Über-)Belastung durch Lesestoff geklagt wird:
„Einer (!) der Gründe für die ‚Leseunlust‘ mag darin liegen, dass die Studierenden gar nicht wissen, wie sie ihr neu angelesenes Wissen organisieren sollten. Ein Gefühl der Überforderung macht sich breit, allein schon bei der Vorstellung von Bücherstapeln und riesigen Dateiordnern mit ungezählten PDFs. Exzerpieren ist ja schön und gut, aber wohin dann mit all den Exzerpten? Eine ‚Lösung‘ sehen viele Studierende in der Reduktion der Quellenarbeit auf das Nötigste.“
Eine ganz treffende Analyse, finde ich: Dem kann ich aus meiner Erfahrung durchaus zustimmen. Wer weiß… vielleicht bietet ja die elektronische Variante des Luhmannschen Zettelkastens ein Tool, mit dem sich die Wissensorganisation für die eine oder den anderen erleichtern lässt? Sonst funktioniert es aber sicher auch mit den „klassischen“ Strategien (Outlining, Mind-Mapping, Exzerpte etc.). 🙂
Nur kommt man auch hier wohl nicht drum herum, sich auf die Organisationsarbeit einzulassen. 😉
http://www.wissenschaftliches-arbeiten-lehren.de/studierende-verzettelt-euch/