Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Gehts hier nach Italien?

Bald ist Weihnachten und vielleicht war das gestern am späten Nachmittag ein Weihnachtserlebnis?

Es ist Freitag und ein dunkler Nachmittag in Augsburg an der Haunstetter-Straße: Ich steige aus der Straßenbahn und gehe die Treppen hoch zum Bahngleis in der Hoffnung, dass die Regionalbahn nach München bald kommt. Aber ich bin wie immer zu früh dran, es ist unangenehm nasskalt – Schneeregen, der Bahnsteig ist ohne Dach. Ich gehe wieder runter und warte lieber an der Straßenbahnhaltestelle, die unter den Bahngleisen und daher überdacht ist. Eine Bahn aus der Stadtmitte kommt und ein Mädchen steigt aus – Grundschulter – mit einem überdimensionalen Schulranzen – jedenfalls im Verhältnis zur Größe des Mädchens. Sie wirkt unschlüssig und geht in Richtung Treppe, schaut hoch, geht zwei Stufen hinauf und blickt neugierig nach oben, geht zurück und mustert die umstehenden Leute. Dann entdeckt sie mich, schaut mich kurz an und kommt auf mich zu: „Weißt du, was da oben ist?“ fragt sie und deutet die Treppen hinauf zum Bahnsteig. Ich denke erst, sie hat sich vielleicht verirrt: „Der Bahnsteig ist da oben. Wieso? Wo musst denn hin?“ „Ich will nur wissen, was da oben ist“, gibt sie mir zur Antwort, „ … ich bin jetzt schon neun Jahre alt und war noch nie da oben.“ Sie geht wieder ein paar Schritte zur Treppe und blickt nach oben:“Kannst du mit mir da mal raufgehen?“ „Ja, natürlich, ich muss sowieso da hoch“, und schon läuft sie vor, nicht ohne sich zu vergewissern, ob ich auch hinter ihr bin. Schnell ist sie oben und fragt: „Und was fährt hier?“ „Züge fahren hier. Manche fahren nur vorbei, aber die Regionalbahnen, die halten hier.“ Sie schaut mich ungewöhnlich begeistert an und will es genauer wissen:“ Wohin fahren die?“ Ich zeige nach rechts: „Hier fahren sie weiter zum Augsburger Hauptbahnhof. Und hier …“, ich zeige nach links, „nach München“. „Und nach Italien? Gehts hier nach Italien?“ Ich muss ein wenig lachen: „Nach Italien? Also …, nicht direkt. Aber du kannst nach München fahren und von da aus dann direkt ab nach Italien!“ „Toll!“ , die Begeisterung der Kleinen steigert sich. Ich bin jetzt ein wenig besorgt; hoffentlich steigt sie nicht einfach in den nächsten Zug: „Musst du nicht nach Hause. Vielleicht nimmst du lieber deine nächste Straßenbahn?“ „Ja“, sagt sie und macht schon kehrt: „Tschüss!“, sie läuft die Treppe runter, dreht sich nochmal um und winkt: „Tschüss!“ „Tschüss“, ich winke auch. Ein Mann blickt mich mürrisch an, die Frau dahinter verzieht keine Miene. Na ja, es ist halt kalt und der Schneeregen ist nicht schön … ich hatte es aber ein paar Minuten vergessen.

9 Kommentare

  1. Wow, das war ein Weihnachtserlebnis! Solche Neugier, einfach super. Hoffetlich trifft sie noch viele Leute, die ihr etwas erklären und nicht etwa antworten „Was issen das für ’ne doofe Frage?“ – hoffentlich bleibt sie von solchen Lehrern verschont, die so antworten.
    Von dieser Neugier und dem Mut zu Fragen bräuchten wir tonnenweise in Deutschland. Da haben dann wohl zwei Menschen Geschenke ausgetauscht. Ganz klar! 🙂
    Frohe Weihnachten, auch an alle Italienfahrer.
    Helge

  2. Einfach schöne Geschichte. Danke!

  3. Ein gesegnetes und fröhliches Weihnachtsfest! Danke für diese Story! Und auch danke, dass es Menschen gibt, die die Antworten nicht scheuen, wenn es solche Fragen gibt!

  4. Sehr schöne Geschichte. Auch wenn die Sonne nicht scheint, Kinder geben sie einfach mit ihrem Lächeln.

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  6. Ich bin heute erst über http://medienpaedagogik.phil.uni-augsburg.de/denkarium/?p=889 auf diese schöne geschichte gestoßen. Wettertechnisch passt sie ja selbst erstaunlich in die zeit einige Wochen nach Weihnachten. Aber mit dem Festgedanken wird sie direkt noch schöner. Vielen Dank und ich bin versucht, sie mir fürs nächste JAhr abzuspeichern und im Weihnachtsordner für die 5./6. Klasse auf ihren Schuleinsatz warten zu lassen 😉

  7. Ja, das wär doch schön :-).
    Gabi

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