„Warum berufen sich Fürsprecher der Digitalisierung der Bildung wie Meinel oder Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, immer wieder auf Humboldt? Diese Frage ist nicht so trivial, wie man zunächst annehmen könnte, denn Wilhelm von Humboldt steht wie kaum ein anderer Denker für ein Bildungsideal, das einerseits sperrig und schwer verständlich wirkt und andererseits für eine Blüte deutscher Geistesgeschichte steht, auf die man nur stolz sein kann.“ In einer Replik auf einen Jubelartikel auf die Digitalisierung von Christoph Meinel, der Humboldt posthum zum Fan der „Bildungscloud“ erklärt, nimmt Markus Deimann deutlich Stellung zum technologischen Instrumentalismus, der in der aktuellen Diskussion zu digitalen Medien in der Hochschulbildung zunehmend unhinterfragt sein Unwesen treibt.
Ich kann Markus Deimann, der sich selbst als einen technikaffinen Bildungswissenschaftler versteht, nur Recht geben, wenn er in seinem Beitrag den tiefsitzenden Glauben einer technischen Umsetzbarkeit des europäischen Bildungsideals als besonders problematisch identifiziert: Dieser nämlich verkenne, dass es Bildungsphilosophie nicht um ein Regelwerk gehe, das Algorithmen ähnelt, „sondern um Vorstellungen, Werte und Ziele, die in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs zu Richtlinien von Bildungspraxis entwickelt werden können.“ Genau dazu aber komme es nicht infolge des derzeitigen Aktionismus, geprägt von digitaler Aufrüstung etwa an Hochschulen: „Stattdessen werden mit einer appellativen Rhetorik die segensreichen Wirkungen der software-gestützten Lösungen von Learning Analytics und Künstlicher Intelligenz verkauft: Sie tut, als sei gewissermaßen selbstverständlich, dass es dadurch zu Verbesserungen des Lernens und Lehrens komme, offen sei lediglich noch, wann es endlich losgehe.“ Nachdenklich sollte machen, dass sich nicht eben wenige Wissenschaftler der Rhetorik und dem Aktionismus mit roten Wangen anschließen und damit der ausgerufenen digitalen Bildungsrevolution die erhofften höheren Weihen verleihen.
Lesenswert ist auch das dazu passende Manuskript eines kürzlich im Mai gehaltenen Vortrags von Deimann mit dem Titel „Warum wir für Arbeit 4.0 nicht Bildung 4.0 brauchen“. In diesem Vortrag zeigt er, dass „Arbeit 4.0“ (auch Peter Baumgartner hatte sich – siehe hier – bei unserem Besuch am HUL damit auseinandergesetzt) ein Menschen- und Gesellschaftsbild befördert, das mit Bildung, wie sie z.B. von Humboldt gemeint war, wenig zu tun hat. Wenn man schon die Logik der Software-Versionierung bemühe, wäre wohl Bildung 0.4 näher an der Wahrheit, so Deimann. Kernziel des Vortrags ist es, deutlich zu machen, dass wir zur aktuell so dominanten Erzählung aus dem Silicon Valley eine Gegen- bzw. Alternativerzählung brauchen, die an einem fundierteren Verständnis von Bildung ansetzen und auf eine digitale Re-Humanisierung hinauslaufen müsste.
Stimmen wie die von Deimann aus der „technikaffinen Bildungswissenschaft“ sind nicht eben laut und zahlreich im Moment. Umso erfreulicher finde ich es, dass wir sie dennoch ab und zu hören. Wir sollten da vielstimmiger werden, denn: Die digitale Transformation unserer Gesellschaft ist ein gewaltiges Phänomen. Es macht mich aber schon stutzig, dass man uns diese Transformation seit einigen Jahren gebetsmühlenartig als eine Art Tsunami verkauft, der uns quasi vernichtet, wenn es uns nicht gelingt, richtig aus- und aufgerüstet auf seiner großen Welle mitzureiten. Und für alle, die sich noch widerspenstig zeigen, kommt dann Humboldt als Wellenreiter um die Ecke und winkt den Zweiflern zu, auf dass sich auch diese noch besinnen mögen. Müssen wir die digitale Transformation nicht eher als eine riesige Sandwüste begreifen, der wir uns in der Tat annehmen müssen, damit wir uns darin nicht hoffnungslos verirren – aber „achtsam“ (siehe z.B. hier), kreativ und selbstbestimmt gestaltend mit dem Ziel, daraus ausgedehnte Oasen für Menschen zu machen, in denen es sich lohnt zu leben?
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