Wo bleiben Begriffsarbeit und Theorie in der Forschung zur Digitalisierung im Lehren und Lernen? In einer aktuellen Ausgabe des Journal of Educational Technology wird dieses Thema mehrfach behandelt. Allerdings ist von „educational technology research” oder von Forschung zu „technology‐enhanced learning“ (nicht von „digitalisation“) die Rede, jedenfalls im Rahmen der folgenden zwei Artikel, die beide die mangelnde theoretische Reflexion kritisieren:
Hew, K. F., Lan, M., Tang, Y., Jia, C. & Lo, C.K. (2019), Where is the “theory” within the field of educational technology research? British Journal of Educational Technology, 50, 956-971.
Passey, D. (2019), Technology‐enhanced learning: Rethinking the term, the concept and its theoretical background. British Journal of Educational Technology, 50, 972-986.
Hew et al. (2019) unternehmen den empirischen Versuch, die Kritik am Theoriedefizit empirisch zu überprüfen. In ihrer Analyse von über 500 jüngst erschienenen empirischen Artikeln aus drei Zeitschriften (Computers & Education; Learning, Media and Technology; and British Journal of Educational Technology) kommen sie zu dem Schluss, dass sich die Autoren der meisten Texte tatsächlich nicht explizit mit Theorie auseinandersetzen: Viele Studien arbeiten entweder völlig ohne Theorie oder nutzen Theorie nur vage. Wenn explizit Theorie herangezogen wird, dann zur Konzeption der Forschung, im Prozess der Datenerhebung und -analyse sowie zur Diskussion von Ergebnissen. Nur sehr wenige Artikel liefern Ergebnisse, die dazu beitragen, Theorien weiterzuentwickeln oder gar neue zu generieren.
Passeys (2019) Text ist theoretisch und setzt zunächst an den Begriffen rund um die Digitalisierung an, wobei sein Ausgangspunkt die Bezeichnung „technology-enhanced learning“ ist. Dieser Begriff sei besonders gebräuchlich, werde aber auch zunehmend unscharf benutzt (eine Kritik, die an das forschende Lernen erinnert) und vor allem zu wenig theoretisch reflektiert. Passey macht einen ordnenden Vorschlag, indem er unter anderem zwischen „learning“, „teaching“ und „education“ differenziert, verweist aber gleichzeitig auf die Grenzen solcher Bemühungen – und zwar wiederum mit dem Hinweis, dass es zum digital gestützten Lernen keine ausgearbeiteten Theorien oder theoretische Rahmenkonzepte gäbe.
Mir scheinen diese beiden kritischen Beiträge auch für die aktuelle deutschsprachige Auseinandersetzung mit der „Digitalisierung“ etwa in Studium und Lehre treffend. Mit der Verdrängung von Begriffen wie E-Learning oder Blended Learning (siehe dazu allerdings auch hier) und deren Ersatz durch „Digitalisierung“ ist zumindest für didaktische Fragen letztlich nichts gewonnen außer dem Anschein, dass man sich nun auf einen neuen bzw. innovativen Weg begeben habe.
Um nochmal Bezug zu den beiden Texten zu nehmen: Passeys Vorschlag, beim Thema Digitalisierung die Perspektiven des Lehrens und Lernens zu differenzieren und – so übersetze ich das mal – eine dritte, nämlich bildungstheoretische, Perspektive einzunehmen, dürfte auch im Kontext der Hochschule sinnvoll, allerdings vom Grundgedanken her freilich alles andere als neu sein. Die Erkenntnisse von Hews et al. wiederum könnten uns daran erinnern, sich mehr Gedanken darüber zu machen, welche Fragen man zur Digitalisierung im Kontext vom Studium und Lehre eigentlich hat, mit welchen Ansätzen sich diese jeweils beantworten lassen (sicher nicht mit einem!) und welche Rolle darin Theorien spielen können und sollen.