Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Das Neue finden

Ende 2020 hat die Zeitschrift für Pädagogik ein Themenheft mit dem Titel „Theoretische Forschung in der Erziehungswissenschaft – Beiträge zur Konturierung eines Forschungsfelds“ veröffentlich, herausgegeben von Johannes Bellmann und Norbert Ricken. Das Heft gibt es leider auch in unserer Bibliothek nur analog, aber es lohnt sich, es zu beschaffen. Schon der Titel macht neugierig – und ich vermute mal, dass er einige aus der Bildungsforschung auch verwundert: Wie kann man denn „theoretisch forschen“?

Ich möchte in diesem Blogpost den Beitrag von Bellmann herausgreifen:

Bellmann, J. (2020). Theoretische Forschung – Unterscheidung und Bezeichnung eines spezifischen Modus der Wissensproduktion. Zeitschrift für Pädagogik, 66 (6), 788-806.

Mit Rückgriff auf den Autor Gabriel Abend (2008) führt Bellmann (S. 790) zunächst einmal verschiedene Theoriebegriffe (in den Sozialwissenschaften) auf: (1) Theorie als generalisierte Aussage über das Verhältnis von Variablen, (2) Theorie als kausale Erklärung eines Phänomens, (3) Theorie als Deutung eines Phänomens, (4) Theorie als Lehre eines klassischen Werks oder Autors, (5) Theorie als genereller Deutungsrahmen, (6) Theorie als normative Perspektive, (7) Theorie als Thematisierung von Problemen auf der Metaebene. Bereits das finde ich ganz erhellend, wird doch nicht selten suggeriert, es sei relativ klar, was zumindest eine wissenschaftliche Theorie ist. In diesem Zusammenhang stellt Bellmann (2020, S. 791) für die Sozial- und Bildungswissenschaften fest: „Die Überwindung des Pluralismus der Bedeutungen von Theorien zugunsten eines verbindlichen Theoriebegriffs erscheint in einer multiparadigmatischen Wissenschaft weder erreichbar noch wünschenswert“.

Interessant sind aus meiner Sicht darüber hinaus Bellmanns Abgrenzungen von Theorie zu anderen Konstrukten, die er in Anlehnung an Levine (2015) vornimmt (Bellmann, 2020, S. 791): Theorie stehe für (1) das Abstrakte im Unterschied zum Empirischen, (2) das Allgemeine im Unterschied zum Besonderen, (3) das Kontemplative im Unterschied zum Praktischen und (4) „etwas (bloß) exegetisch auf die Auslegung eines überlieferten Sinns bezogenes im Unterschied zu etwas heuristisch auf die Findung des Neuen Ausgerichtetes“. Letzteres verweist also ganz explizit auf das Potenzial theoretischen Arbeitens, „etwas Neues“ zu finden bzw. Erkenntnis zu genieren.

Schließlich postuliert Bellmann (2020, S. 792) noch eine analytische Unterscheidung von drei Dimensionen theoretischer Forschung, wobei auf jeder Dimension verschiedene Theoriebegriffe eine Rolle spielen können: (1) Theorieforschung: Theorien sind Gegenstand von Forschung; das Vorgehen bezeichnet Bellmann als rekonstruktiv. (2) Theoretisieren (doing theory): Theorien sind bzw. das Theoretisieren ist der Modus bzw. das Verfahren der Forschung; das Vorgehen wird als performativ bezeichnet. (3) Theoriebildung: Theorien sind das Ziel bzw. das Resultat von Forschung; das Vorgehen kennzeichnet Bellmann als konstruktiv. Wenn von „theoretischer Forschung“ die Rede ist, dann denke ich selber an Variante 2: Theoretisieren als Modus des Forschens.

In der Diskussion um „theoretische Forschung“ wird rasch erkennbar, dass es ganz verschiedene Forschungsbegriffe gibt. Oder anders formuliert: Das Verständnis von Forschung ist höchst heterogen. Debatten um die Definition oder Definitionen von Forschung haben nach Bellmann (2020, S. 792 f.) sowohl wissenschaftstheoretische als auch wissenschaftspolitische Bedeutung. Die Suche nach Definitionen ist letztlich eng mit der Unterscheidung verschiedener Forschungstypen verbunden. Bezugnehmend auf einen Vorschlag von Peter Kauder teilt Bellmann schließlich Forschung auf in: theoretische Forschung, empirischer Forschung, historische Forschung und pragmatische Forschung. Gegebenenfalls, so mein vorläufiges Fazit, kommt auch mit einer Dreiteilung aus: empirische, theoretische und praktische Forschung.

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