Vor kurzem habe ich an einer Expertenumfrage teilgenommen, bei der man zwar nicht hellsehen, aber doch irgendwie in die Zukunft schauen und seine Einschätzung abgeben muss, wie sich eine bestimmte Technologie bis zu einem bestimmten Jahr in einem bestimmten Bereich entwickeln wird. Gut ist ja schon mal, dass es dabei schon lange nicht mehr digitale Technologien an sich geht, sondern dass verschiedene Technologiegruppen unterschieden werden. Auch werden die Bereiche eingegrenzt: z.B. Schulen, Hochschule, Unternehmen.
Trotzdem: Mir ist da nie wohl dabei. Erstens ist auch die genannte Differenzierung immer noch viel zu grob. Kann man z.B. Mittelstandsfirmen mit großen Konzernen in einen Topf werfen, eigentümergeführte Betriebe mit AGs vergleichen? An den Hochschulen wissen wir, wie groß die Unterschiede zwischen den Disziplinen sind sowohl in Bezug auf die Lehre als auch in Bezug auf die Forschung – ist es sinnvoll, das in einem Atemzug zu behandeln bzw. zu bewerten? Zweitens mischen sich bei Antworten innerhalb von Umfragen ja doch immer wahrscheinliche und erwünschte Szenarien. Wenn ich mich da selbst beobachte, merke ich, dass ich das beim Antworten nicht immer ganz auseinanderhalte – ja vielleicht auch gar nicht auseinanderhalten will, denn: Wenn etwas zwar unwahrscheinlich, aber immerhin wünschenswert ist, können ja die Wünsche einer kritischen Masse von Experten auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen oder? Meinungen konstruieren Wirklichkeit zumindest mit. Drittens frage ich mich, was das eigentlich bringt: Ist das verkappte Marktforschung, damit zur rechten Zeit die rechten Produkte platziert werden? Oder glaubt jemand im Ernst, dass anhand solcher Ergebnisse Curricula umgeschrieben und Lehrende fortgebildet werden?
Meine Skepsis gegenüber diesen Studien nimmt auch den „Horizon Report“ nicht aus, der – einige Blogger haben bereits darauf verweisen – auch in deutscher Sprache vorliegt (kann man hier abrufen). Positiv ist, dass der Report am Ende eine recht genaue Beschreibung des Vorgehens liefert, also zumindest Transparenz schafft, wie die Ergebnisse zustande kommen. Die Resultate dieses Berichts wirken nicht eben sonderlich überraschend: Open Content und mobile Rechnernutzung – so die Vorhersage – werden sich kurzfristig in Lehre und Forschung durchsetzen. Elektronische Bücher und einfache Formen der „augmented reality“ (will heißen: Verschmelzung digitaler und realer Aktivitäten) werden mittelfristig wichtiger werden, und die visuelle Datenanalyse sowie gestenbasiertes Computing (im Unterhaltungsbereich bereits existent) stehen am langfristigen Zeithorizont. Mal ungeachtet davon, dass es meines Wissens schon eine ganze Reihe von Forschern gibt, die mit der visuellen Datenanalyse in Forschung und Lehre arbeiten, kann ich mir eher nicht vorstellen, dass sich Hochschulen in zwei bis drei Jahren (das gilt heute schon als langfristig) mit spielkonsolenähnlichen Geräten ausstatten werden. Vielleicht sollten wir uns manchmal mehr um die Gegenwart und darum kümmern, wie wir die aktuellen Probleme lösen könnten.
22. März 2010 um 10:04
Hallo Gabi
Ich denke da ist der Anspruch an die Studien zu hoch bewertet und Skepsis ist irgendwie falsch ausgedrückt. Wann haben Studien überhaupt direkte Auswirkungen auf die Lehre? Im Normalfall nie, meist passiert die Veränderung individuell. Wirklich fundamentale Änderungen brauchen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Nehmen wir z.B. die E-Mail. Sie gibt es jetzt seit über 30 Jahren und trotzdem ist sie immer noch verbindlich und wann wird es eine Signatur für eine verifizierte Mail geben? Ich will damit sagen, dass selbst diese Selbstverständlichkeiten wie E-Mail und das WWW noch keine direkten Veränderungen gebracht haben und ein Horizont Report oder einer anderen Studie wird dies erst recht nicht schaffen.
Andersrum ist die Digitalisierung nicht aufzuhalten und verändert viel, z.B. mit dem Handy, was jeder besitzt. Es schadet nicht sich mit Trends zu beschäftigen, aber nicht jeder ist ein Early Adaptor, aber wir brauchen sie damit sich überhaupt etwas ändert.
Gruss aus dem Norden
Andreas
22. März 2010 um 10:17
Hallo Andreas,
es stimmt natürlich, dass man von Forschungsarbeiten keineswegs immer direkte und vor allem eher selten unmittelbare Folgen für die Bildungspraxis erwarten kann. Aber ich würde an die Bildungswissenschaften schon den Anspruch formulieren, dass sie den Nutzen AUCH im Blick haben. Das ist ein (Meta-)Thema, mit dem ich mich nun schon seit mehreren Jahren beschäftige und es gibt hier freilich keine einfachen Antworten. Forschung soll zunächst einmal Erkenntnis bringen, aber es ist die Frage, auf WELCHE Erkenntnisse man zusteuert und welche für die Gesellschaft relevant sind. Prinzipiell KANN man alles erforschen, aber ist es auch sinnvoll? Zudem kann Forschung auch via Problemlösungen zu Erkenntnis beitragen. Das ist komplizierter zu erläutern und passt nicht in einen Kommentar. Das kann man aber in mindestens zwei der Preprints, die hier online stehen, nachlesen. Ein besonderer Fall, der mich zu dem aktuellen Blogbeitrag motiviert hat, sind diese Trendeinschätzungen. Da bleibt meine Skepsis groß, jedenfalls bei den momentan verwandten Verfahren.
Gabi