„Bildung statt Bologna!“, so lautet der programmatische Titel eines schmalen Taschenbuches von Dieter Lenzen, das verschiedene in Zeitungen und Zeitschriften bereits veröffentlichte Beiträge von Lenzen unter drei Kapitel zusammenführt: I. Bologna: Vom Scheitern einer Reform, II. Was ist Bildung?, III. Die Zukunft universitärer Bildung.
Wenn ich mal mit einem Resümee anfange, dann muss ich sagen: Ja, letztlich stimme ich Lenzen zu einem relativ hohen Prozentsatz in dem zu, was er da auf knapp 100 schnell zu lesenden Seiten zusammenstellt (auch wenn ich nicht jeden Satz unterschreiben würde): Das Kopieren des britischen Bachelor- und Master-Systems und der US-amerikanischen Abschlusstypen ohne tiefere Analyse, ob die Bedingungen passen und die Folgen gewollt sind, die Ignoranz gegenüber dem kontinentaleuropäischen Bildungsverständnis und der Idee „Bildung durch Wissenschaft“, das Elend mit der Akkreditierung sowie die Versäumnisse der Hochschullehrer selbst im Bologna-Prozess infolge von Unkenntnis, Fehleinschätzung und/oder Gleichgültigkeit – all das sind Punkte, die Lenzen aus meiner Sicht gut auf den Punkt bringt.
Immer dann, wenn an wenigen Stellen auch die Mikroebene der Didaktik aufscheint, kann ich Lenzen nicht mehr ganz so folgen – etwa in Bezug auf Betreuungsfragen von studentischen Arbeiten, in Bezug auf die Verbindung von Vermittlung und anderen Formen des Lehrens etc. Ich mache das mal an zwei Beispielen deutlich:
Erstens: Gegen Ende des Buches (auf Seite 96) heißt es z.B.. „Je mehr wir die universitäre Lehre determinieren, ihre Inhalte, die Methoden der Vermittlung und die Verfahren der Leistungsüberprüfung, desto mehr verwandeln wir das, was einmal ein Angebot war, in eine Zumutung. Aus einem Angebot kann man wählen wie in einem intellektuellen Feinkostgeschäft. Bologna dagegen riecht nach Truppenversorgung und Zwangsernährung“. Die Bilder, die hier verwendet werden, sind stark und das ist sicher gut so, weil sie zuspitzen, was in Universitäten als Problem sichtbar wird. Allerdings werden hier die Ebenen vermischt: Autonomie auf der Ebene etwa der Studienganggestaltung ist etwas anderes als Autonomie auf der Ebene des Lehrens und Lernens. Auf der Lehr-Lernebene ist die Autonomie Teil einer wichtigen (vielleicht der wichtigsten) Antinomie, die man verschieden bezeichnen kann als „Freiheit und Zwang“ oder „Selbstorganisation und Anleitung“ etc.; diese Antinomie stellt eine besondere didaktische Herausforderung dar.
Zweitens: In der Mitte des Buches finden sich Ausführungen zur Bildung, die gewagt kurz und vereinfacht sind. Aber: Es ist zu hoffen, dass Leser genau darüber nicht rasch hinweglesen, denn: Natürlich sind es genau diese Überlegungen zur Idee der Bildung und damit (wie auf den Seiten 46 bis 55 erläutert) die Annahmen von der „Bildsamkeit“ des Menschen, der „Selbstbildung“ und der „Höherbildung der Menschheit“, die als Orientierung für das universitäre Lehren und Lernen (versus Ausbildung) von großer Bedeutung sind. Wie schwer es ist, Bildungsgedanken dieser Art in der Lehre auch umzusetzen (was dann wieder eine didaktische Aufgabe ist), weiß jeder, der in der Lehre tätig ist. Was hier helfen könnte, wird zwar angesprochen, bleibt aber abstrakt und stellenweise widersprüchlich.
Aber: „Bildung statt Bologna“ ist ja auch kein Didaktik-Buch, sondern eine Streitschrift – eben vor allem politischen Charakters.
Unschlüssig bin ich, was das Thema „Workload“ betrifft. Lenzens Ansicht dazu (auf Seite 76 f.): „Allein das Wort ´Workload´ im Zusammenhang mit Lernen zu verwenden und die wöchentliche Lernbelastung auf 40 Stunden zu reduzieren, um für die erfolgreiche Absolvierung der ´Arbeitsstunden´ dann den Monatslohn in Form von Credits auszugeben, ist eine derart absurde Perversion der Universitätsidee, dass man sich nicht wundern muss, wenn Professoren und Studierende sich so benehmen wie Bergarbeiter, die völlig zu Recht gegen jede Stunde Mehrarbeit und für jeden Cent höheren Lohn kämpfen und streiken“. Einerseits sage ich mir ja immer: Schaden kann es nicht, wenn Lehrende bei der Planung ihrer Lehrveranstaltung ihre Vorstellung deutlich machen (und den Studierenden mitteilen), welche und wie viel geistige und zeitliche Investition sie denn für notwendig halten, um die Veranstaltung erfolgreich abzuschließen. Dass das zum einen nur die Sicht des Lehrenden ist (und von der der Studierenden abweichen kann), und dass es zum anderen nur ein Richtwert sein kann, der die vielen individuellen Schwankungen nicht berücksichtigen wird, ist ja nun klar. Aber zumindest werden die Erwartungen des Lehrenden deutlich, denen die Studierenden ihre Erwartungen und/oder Erfahrungen entgegenstellen können. So gesehen relativiert sich die „Workload-Problematik“. Andererseits stimmt es schon, dass allein die Einführung der beiden quantitativen Maße „Workload“ und „Credit Points“ das Bewusstsein verändert und eine Exaktheit suggeriert, die wir beim Lernen selbstverständlich niemals haben. Klaus Prange hat das mit der Gegenüberstellung von „erlebter Lernzeit“ (Modalzeit) und eher schon messbarer Lehrzeit (Datenzeit) aus meiner Sicht prägnant formuliert (siehe z.B. hier). Wenn ich z.B. in Gremien sitze, in denen Lehrende und Studierende um eben diesen Punkt streiten, dann macht mich das auch regelmäßig ratlos, denn man muss da in der Tat die Frage stellen, ob wir da nicht auf einer Ebene gelandet sind, die dem akademischen Lehren und Lernen nicht mehr gerecht wird. Von daher schwanke ich hier zwischen „Lasst uns das ECTS-System einfach sinnvoll nutzen“ und „Lasst uns das ECTS-System einfach abschaffen oder radikal unterlaufen“.
In einem Interview zu seinem Buch (hier) im Deutschlandfunk sagt Lenzen als Fazit: „Es ist nicht realistisch, die Bologna-Reform wieder zurückzudrehen, es sei denn, dass auch der Euro fällt, dann wird sicher auch die Bologna-Reform fallen, sondern wir brauchen eine Reform der Reform. In den Universitäten ist dafür sehr viel gemacht worden in den letzten Jahren, und Verschulung zurückgenommen worden und so weiter. Aber nun ist auch die Politik dran. Ich denke, dass der achtsemestrige Bachelor der Weg der Wahl sein muss, und er muss natürlich auch ökonomisch unterlegt werden.“ So ganz passt das mit einigen Stellen im Buch nicht zusammen, in denen deutlich wird, dass nach wie vor für nicht wenige Berufe und Karrierewege der Master erforderlich ist. Denn dann müsste man auch auf einjährige Master gehen, was schwierig (vielleicht auch unsinnig) ist oder man müsste die frühere Regelstudienzeit von fünf Jahren auf sechs Jahre anheben.
Unklar bleibt am Ende auch die Rolle der Akkreditierung durch externe (kommerziell agierende) Agenturen – was mir aber essenziell für eine „Reform der Reform“ erscheint. Gewundert hat mich daher, dass Lenzen in seinem Buch nicht auch stärker diesen Punkt aufgenommen hat. Immerhin hat es 2013 einen entsprechenden Vorschlag des Aktionsrats Bildung (dessen Vorsitzender Dieter Lenzen ist) gegeben (hier das Gutachten), in dem die Forderung lautet „Auditierung statt Akkreditierung“ – eine sinnvolle Forderung, wie ich finde (mein Blog-Beitrag dazu findet sich hier).