Fünf oder sechs Credit Points für eine Veranstaltung? Zwei oder drei Veranstaltungen in ein Modul? Pflicht oder Wahlpflicht? Wer kann das noch bestimmen? Bereits im Jahr 2011 erschien (online hier) ein interessantes Papier von Stefan Kühl mit dem sinnigen Titel „Der Sudoku-Effekt der Bologna-Reform“. Die Analogie erklärt sich wie folgt:
Die Komplexität wird […] durch den „Sudoku-Effekt“ der Bologna-Reform geschaffen. Genau so wie es bei dem Logikrätsel Sudoku darauf ankomme, die Zahlen von 1 bis 9 in Spalten, Zeilen und Blöcken unterzubringen, wird mit den Bologna-Vorgaben verlangt, dass alle Prüfungen, Seminare und Vorlesungen in sogenannten Leistungspunkten ausgedrückt werden, die dann schlüssig auf Module zu verteilen sind. Genau so wie bei jedem Sudoku exakt Zahlen im Gesamtergebnis von 405 – nämlich 9 x jeweils die Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 – in Kästchen zu verteilen sind, müssen bei den Bologna-Studiengängen am Ende entweder genau 180 Leistungspunkte für den Bachelor oder genau 120 Leistungspunkte für den Master herauskommen. Genau so wie es beim „Sudoku“ am Ende immer schwieriger wird, die Zahlen anzuordnen, wird auch bei der Gestaltung von Studiengängen am Ende häufig nur noch darauf geachtet, dass am Ende alles zahlenmäßig irgendwie aufgeht.“ (S. 5) Eine von vielen Folgen ist: „Nicht selten sitzen dann Studiengangsplaner mit Taschenrechnern über einer Vielzahl von Tabellen und schauen, bei welcher Leistungspunktezurechnung für Übungen, Hausarbeiten oder Klausuren alles aufgeht. […] Hauptsache, man kommt am Ende irgendwie auf die verlangten 180 oder 120 Leistungspunkte für einen Studiengang.“ (S. 14)
Nun gibt es einen aktuellen Beitrag in der ZEIT von Karlheinz Töchterle. Auch in diesem Text (online hier) geht es um das ECTS-System, das inzwischen zur Uni gehört wie die Liturgie in der Kirche. Der Autor kritisiert: „Gemessen und bewertet wird [..] nicht der Fortschritt im Wissen und Können und in der Durchdringung eines Faches, sondern wie viele Stunden man dabei zugebracht hat“ – und das, wie wir seit der ZEITLast-Studie wissen, ist eine höchst ungenaue Messung! Aber unabhängig davon, stellt Töchterle fest: „Nun ist es beinahe überflüssig, zu sagen, dass für die Übersetzung einer Rede Ciceros, eine Blinddarmoperation oder die Konstruktion einer stabilen Brücke jeweils nur der eingetretene Erfolg, niemals aber die aufgewendete Zeit relevant sein kann. Wäre sie es, könnten die Übersetzung unlesbar, die Operation letal und die Brücke brüchig sein.“
Der Text benennt aus meiner Sicht wichtige, aber natürlich seit langem bekannte Probleme. Das eigentlich Interessante ist ja nun, dass sich trotz der massiven Kritik seit Jahren nichts ändert. Ich selbst erlebe es an der Hochschule inzwischen schon als Farce, welchen widersinnigen Aufwand wir infolge des „Bepunktungswahns“ in der Verwaltung haben. Noch schlimmer ist, welche Denkhaltung viele Studierende innerhalb dieses Systems entwickeln: Bildung sei eine Dienstleistung, hörte ich kürzlich einen Studierenden sagen … und das war sicher keine Einzelmeinung: Ziel ist es, möglichst viel auf sein Diploma Supplement zu holen – und die Betonung liegt auf VIEL – egal wie, denn mehr ist besser und vor allem sicherer auf einem unsicheren Arbeitsmarkt. Ich kann das aus der Sicht der Studierenden verstehen, sie verhalten sich konform in einem System, das sie nicht selber geschaffen, sondern vorgefunden haben, das wir als Professoren nicht bekämpft, sondern klaglos hingenommen haben.
Töchterle überlegt in seinem Text, wie Lösungen aussehen könnten und plädiert für Entschärfungen. An sich möchte er eine radikale Lösung, aber die hält er für unwahrscheinlich. Ich bin froh, dass er sie trotzdem formuliert:
„Unerreichbar scheint […] eine radikalere Lösung, die wenigstens als Utopie an den Schluss gestellt sei. Sie bestünde im Wiedereinführen einer großen Abschlussprüfung und der gänzlichen Freigabe des Weges dorthin. Die in dieser Prüfung verlangte Leistung könnte im gesamten Bolognaraum für alle Fächer standardisiert werden. Jeder wüsste, was es dort zu erbringen gilt, und würde, statt nach Einzelzeugnissen und Punkten zu jagen, bei den besten Lehrern (nicht bei den billigsten) mit den ihm zusagenden Methoden sein Wissen zu erweitern und zu festigen suchen.“ Und warum glaubt der Autor, dass dieser Zustand unerreichbar ist? „Der Bepunktungswahn hat inzwischen […] nicht nur die ihn verwaltende Bürokratie wuchern lassen, sondern auch so viele andere Bereiche des Studienbetriebs erfasst und sich selbst damit so unentbehrlich gemacht, dass das feste Vertrauen in die Utopie als solche nicht erschüttert wird.“
Aber na ja, es sind ja auf der Welt schon ganz andere, scheinbar unerschütterliche Strukturen und Zustände ins Wanken geraten … warum glauben speziell Wissenschaftler/innen eigentlich so wenig an die Kraft gemeinsamer Anstrengung für reale Veränderungen?