Der Soziologe Rudolf Stichweh spricht in einem Interview (hier) über die Tücken der Wissenschaftsfinanzierung bzw. Forschungsförderung. Im Zentrum steht die Frage, wer sowohl die „kleinen“ Probleme als auch die großen gesellschaftlichen Herausforderungen definiert, für die Wissenschaft nach Lösungen sucht. Während Wissenschaftler bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder beim Europäischen Forschungsrat ERC (European Research Council) ihre Fragen selbst formulieren, sind diese mehr oder weniger detailliert vorgegeben, wenn Forschungsprogramme von der Politik oder Wirtschaft ausgeschrieben werden. Zwar werden auch für solche Ausschreibungen in der Regel Wissenschaftler beratend hinzugezogen: Skepsis gegenüber diesem Weg aber ist durchaus angebracht, wie das Interview deutlich macht. Der Wissenschaftsrat, so Stichweh, habe vor gut einem Jahr ein Positionspapier verabschiedet, mit dem er die Debatte über die sogenannten Großen Gesellschaftlichen Herausforderungen anstoßen wollte. „Ich stehe diesen Zuspitzungen mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Derlei Versuche bergen immer die Gefahr, irgendwelchen Moden nachzulaufen. Probleme, die heute vielleicht als relevant erscheinen, können schon morgen in ihrer Bedeutung von anderen verdrängt werden. Das dafür investierte Forschungsgeld verpufft.“
Im Übrigen bestimmen Wissenschaftler auch in der grundfinanzierten Forschung ihre Fragen selbst, wie Stichweh anführt. Diese dritte Säule der Wissenschaftsfinanzierung aber ist dann im Verlauf des Interviews kein Thema mehr – so viel zur Relevanz der Forschung, die eigentlich Teil der Aufgabe eines Professors ist, selbst wenn er keine Drittmittel akquiriert.
Stichweh spricht sich deutlich dafür aus, dass sich Wissenschaftler aktiv dafür engagieren müssten, den Pluralismus in der Wissenschaft zu erhalten. Er nennt das den „Imperativ des Pluralismus“: „Es ist immer problematisch, sich auf Weniges zu konzentrieren. Dabei besteht immer die Gefahr, dass Dinge aufgeblasen werden, die vielleicht nur Probleme unter vielen anderen, nicht aber entscheidende Probleme sind. Es ist wichtig, vielen Problemidentifikationen, vielen Lösungswegen, vielen Disziplinen, vielen Forschungszugängen eine Chance zu geben. Die Kraft des Pluralismus scheint mir unabweisbar. Doch genau sie kommt unter die Räder.“
Im Laufe des Interviews kommt Stichweh auch auf die Schwierigkeit zu sprechen, die sich durch die Übermacht der Ingenieur- und Naturwissenschaften ergeben: „An der Debatte zu den Großen Gesellschaftlichen Herausforderungen können Sie sehen, dass bei deren Benennung meist auf Fragen abgestellt wird, die etwas mit Technik und Ingenieurwissen zu tun haben. Gesellschaftliche Fragen werden dabei kaum verhandelt.“ Das deutet er auch politisch: „Im Wahlkampf tauchen meist Fragen zu Ungleichheit und Armut auf, wenn es dann aber um die Gestaltung der Wissenschaftspolitik geht, treten Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in den Hintergrund. In den Vordergrund schieben sich statt dessen Ingenieurfragen, was die Suprematie der Ingenieur- und Naturwissenschaften perpetuiert.“
Das Interview ist auch für die Bildungswissenschaften interessant. Die vielen Ausschreibungen und Programme der letzten Jahre begrüßen sicher viele sehr – ich auch. Gleichzeitig gibt es da einen gewissen Nachgeschmack – und zwar genau aus dem von Stichweh genannten Gründen: Wer formuliert die Fragen? Wer steckt die Felder ab, auf denen man nach neuen Fragen sucht? Wer legt fest, was wichtig ist? Wer hat Definitionsmacht, wenn es darum geht, die großen und kleinen gesellschaftlichen Herausforderungen zu identifizieren, in denen bildungswissenschaftliche Forschung eine Antwort liefern kann?