Wer im Kontext der allgemeinen Hochschuldidaktik nach theoretischen Konzepte zum Üben sucht, findet nicht viel, obschon es faktisch weit verbreitet ist: Immerhin gibt es die Übung als Lehrformat an Hochschulen, es werden immer mehr Brücken- und Vorkurse konzipiert, die in hohem Maße auf das Üben setzen, digitale Medien ermöglichen individualisiertes Üben etc. Mein Verdacht ist ja schon lange: Das eher geringe theoretische und empirische Interesse am Üben in der Hochschuldidaktik könnte unter anderem vom schlechten Ruf des Übens als Pauken, Drill-and-Practice oder Maßnahme der Disziplinierung verursacht sein. Anzunehmen ist des Weiteren, dass man das Üben im Zuge konstruktivistischer Ansätze aus den Augen verloren hat und als eine letztlich unwichtige und überholte Lernform betrachtet.
Bereits in den 1970er Jahren hat Otto Friedrich Bollnow die Vernachlässigung des Übens kritisiert. Bollnows Konzept des Übens stellt die Notwenigkeit heraus, nicht nur den äußeren Effekt im Blick zu haben (Üben als Mittel zum Zweck), sondern dem Akt des Übens als solchen, der damit verbundenen Konzentration und Sorgfalt, aber auch der (potenziell möglichen) Freude am Prozess Aufmerksamkeit zu schenken (Üben als Selbstzweck). Aus psychologischer Sicht ist dieser Fokus der metakognitiven Komponente der Selbstlernkompetenz ähnlich und eröffnet prinzipiell die Möglichkeit, dass man lernt, wie man effektiv übt, unter welchen Voraussetzungen dies am besten gelingt und wie man sich hierzu motiviert. Hans Aebli hat in den 1980er Jahren das Üben aufgegriffen und es zu einer der Grundformen des Lehrens erklärt. Ähnlich wie Bollnow entkräftet er die oft geäußerte Kritik, Üben sei sinnentleert und ineffektiv, indem er betont, dass es keineswegs nur um den Aufbau von Routinen, sondern um ein Verstehen durch variable Übungsmöglichkeiten gehe (kognitiver Aspekt). Zu ergänzen ist, dass man beim Üben lernen kann, vorhandene soziale wie auch materiale Ressourcen zu nutzen (ressourcenbezogener Aspekt). Auch der Klaus Prange mit seiner „operativen Pädagogik“ (und dem Konzept des Zeigens) sieht im Üben zum Aufbau von Fähigkeiten und Fertigkeiten eine zentrale Operation des Lernens.
Viel mehr aber hatte ich in den letzten Jahren zum Üben nicht gefunden. Nun bin ich auf das Buch von Malte Brinkmann mit dem Titel „Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lernform“ gestoßen. Es ist bereits 2012 erschienen – es handelt sich um die Habilitationsschrift von Brinkmann und ist ein entsprechend umfassendes Werk. Ich habe das Buch gelesen, aber zugegebenermaßen nicht alles verstanden, da mir unter anderem tieferes Wissen zur Phänomenologie fehlt, welche das Buch stark prägt. Die Lektüre war dennoch ein großer Gewinn für mich: Es finden sich darin viele Anregungen für meine eigenen Überlegungen zur akademischen Lehre, von der ich annehme, dass sie gleichermaßen rezeptive, produktive und übende Lernformen anstoßen und unterstützen sollte.
Üben – so Brinkmann – ist in vieler Hinsicht ein Akt des Wiederholens, dem aber auch eine verändernde Kraft innewohnt, sodass das Üben sowohl eine konservative (ordnungserhaltende) als auch eine kreative (ordnungsstiftende) Funktion übernehmen kann. Üben ist Brinkmann zufolge eben keine sekundäre, sondern eine primäre bzw. elementare und zentrale Lernform, die aber durchaus ambivalent ist. In seinem Buch arbeitet er die bestehenden Konzepte und Theorien zum Üben kritisch auf – unter anderem auch den oben genannten Bollnow und Aebli, denen er allerdings eine recht einseitige Sicht auf das Üben bescheinigt. In weiten, auch historischen, Bögen zeigt er die Vielschichtigkeit des Übens für den Menschen und die Gesellschaft auf – in einer Form, die mir bisher so nicht bekannt war und für mich interessante neue Aspekte lieferte. Am Ende des Buches kommt er zu dem Schluss, dass Üben eine inhaltlich-weltliche, individuell-zeitliche und sozial-machtförmige Dimension hat und die Didaktik der Übung als Verschränkung von Aus-, Selbst- und Fremdführung bestimmt werden kann. Dafür brauche man eine eigene „Technologie“, und das heißt auch: Das Üben dürfe man weder ausschließlich lernpsychologisch begründeten Rezepten noch einer Entdidaktisierung preisgeben.
Einen Überblick über die Inhalte und Argumentation des Buches findet sich in dieser Rezension hier.
Brinkmann konzentriert sich mit seinem Buch weitgehend auf die Schule. Viele Beispiele und die Aufarbeitung historischer und zeitgenössischer Konzepte sind aber auch unabhängig von der Schule zu sehen. Eine spezielle Anwendung auf die Hochschule findet sich hier nicht, ist aber meiner Einschätzung machbar.
Abschließend noch eine Bemerkung, auch wenn das jetzt ein ganz anderes Thema ist. Beim Lesen habe ich mir öfter gedacht: Ein Glück, dass es auch noch solche Werke gibt und nicht nur diese Sammlungen kurzatmiger „Papers“, die zu einer Habilitation zusammengeschnürt werden. Gut, man könnte jetzt sagen: Über den „Paper-Weg“ übt man zumindest das, was auch weiterhin gefragt ist. Das stimmt wohl. Diese Art der Übung formt aber auch eine entsprechende Haltung, die letztlich dazu führen könnte, dass es bald gar keine Werke mehr wie diese gibt.
6. Mai 2016 um 14:18
Liebe Gabi, danke für den Text; auch ich bin diese Woche über das Üben in der Diskussion mit Studierenden gestolpert. Ausgehend vom Text Roland Reichenbachs, der „Üben“ als „böses“ Wort bezeichnet (http://www.lvr.de/app/resources/die_zumutung_des_erziehens_und_der_mut_zur_paedagogik.pdf) entzündete sich eine Diskussion just um das Üben, denn die (Lehramts-)Studierenden sahen dies ganz anders als Reichenbach und konnten die Einordnung überhaupt nicht nachvollziehen: Üben würde immer zum Lernen dazugehören, so die Aussagen. Vielleicht ist die implizite Konnotation sensu Reichenbach ja auch ein Grund, weswegen es wenig Auseinandersetzung damit gibt?
6. Mai 2016 um 14:27
Unbedingt! Zeitgeist und damit verbundene Vorstellungen von „guter Lehre“ sind ja ganz entscheidende Bewertungsfolien, von denen man sich – einmal „eingeübt“ 😉 – in der Regel ganz schwer trennen kann.