Titel des dritten Aufsatzes in „Erfahrung und Tatsache“ von Ludwik Fleck ist: „Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen“. Es handelt sich um eine Übersetzung; das polnische Original ist 1935 erschienen. In ähnlicher Weise wie (hier) beim ersten Aufsatz und (hier) beim zweiten Aufsatz bespreche ich nun selektiv und mit Blick auf die Hochschuldidaktik den Text; Informationen zum Kontext dieses Unterfangens finden sich hier. Ich beginne wieder am Ende, denn die folgenden beiden Sätze auf der letzten Seite (S. 82) des Textes bringen das Wesentliche auf den Punkt: „Was wir denken und wie wir sehen, hängt vom Denkkollektiv ab, dem wir angehören“. „´Sehen´ heißt: im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört“.
Eine „reine, vorurteilsfreie Beobachtung“, die „unabhängig ist von der Umgebung, ihrer Tradition und von der Epoche“ (S. 81), gibt es nach Fleck nirgendwo. „Unmöglich ist ein wirklich isolierter Forscher, unmöglich ist eine ahistorische Entdeckung, unmöglich ist eine stillose Beobachtung“. Auch das Denken sei daher eine „kollektive Tätigkeit“, die historischen Veränderungen unterläge.
Bereits im zweiten Aufsatz hatte Fleck deutlich gemacht, dass man das Sehen (in der Wissenschaft) erst lernen müsse. Nun konkretisiert er aber noch in eine andere Richtung, die eher das wissenschaftliche Handwerkszeug berührt: „Man muß … erst lernen, zu schauen, um das wahrnehmen zu können, was die Grundlage der gegebenen Disziplin bildet. Man muß eine gewisse Erfahrung, eine gewisse Geschicklichkeit erwerben, die sich nicht durch Wortformeln ersetzen lassen“ (S. 60). Und das sei ausgesprochen spezifisch für verschiedene (Teil-)Disziplinen: „Zu beobachten ist keine allgemeine Fähigkeit, sie umfaßt nicht alle Wissensgebiete zugleich. Im Gegenteil, sie beschränkt sich immer nur auf einen bestimmten Bereich“ (S. 61). Und daher gelte: „Ein in einem gewissen Bereich nicht geschulter Beobachter ist nicht imstande, eine brauchbare Beschreibung zu geben. Im besten Fall gibt er eine ausgedehnte, viele Einzelheiten enthaltende Beschreibung, von denen die Mehrzahl unwesentlich oder überhaupt zufällig sein wird“ (S. 61). Die Gestalt trete dann nicht aus dem Hintergrund hervor. Für die Wahrnehmung einer Gestalt nämlich brauche man „eine gerichtete Bereitschaft zu gewissen Wahrnehmungen“ (S. 61). Die Frage, die ich mir stelle ist, ob und inwieweit das auch für die Hochschuldidaktik gilt: Anders als etwa auf naturwissenschaftlichen Gebieten, scheint es auf dem Forschungsgebiet des (akademischen) Lehrens und Lernens wesentlich leichter und auch selbstverständlich zu sein, jederzeit mitreden und mitmachen zu können. Aber ist es tatsächlich so? Muss man nicht auch auf diesem Gebiet erst lernen zu sehen, was wichtig ist und was die relevanten Gestalten sind, die es näher zu ergründen gilt?
Was Laien und Fachleute sehen, ist also laut Fleck sehr verschieden: „Je näher die Bildung des beobachtenden Laien der Bildung des Fachmanns ist, desto näher ist auch das gesehene Bild“ (S. 65). Beobachtungsergebnisse unterscheiden sich aber auch zwischen Wissenschaftlern – und zwar in Abhängigkeit von ihren Denkstilen: je verschiedener die Denkstile, umso entfernter die Beobachtungsergebnisse (S. 68). Fleck geht sogar so weit, dass er daraus verschiedene Beobachtungsgegenstände folgert: „Man muß also sagen, daß zwei Beobachter, deren Denkstile weit genug voneinander entfernt sind, keine gemeinsame Beobachtungsgegenstände haben, sondern jeder von ihnen im Grundsatz einen anderen Gegenstand beobachtet“ (S. 68). Diese Folgerung ist sehr gewichtig. Für eine Disziplin wie die Hochschuldidaktik, von der wir immer wieder sagen (und hören/lesen), dass sie ein Schnittfeld etwa der Lehr-Lernforschung, Hochschulforschung und Wissenschaftsforschung ist, steht vor dem Hintergrund solcher Feststellungen vor einem gravierenden Problem: Wie kommt man eigentlich auf einen gemeinsamen Gegenstand?
Wenn nun aber erst der geübte Forscher wirken sehen und beobachten kann, ist damit leider auch ein gravierender Nachteil verbunden – der Nachteil der Routine – und wir kennen das alle: Der routinierte Forscher, so Fleck, der Denkgewohnheiten ausgebildet hat, sei nicht mehr imstande „unkritisch zu beobachten“ (S. 69). Für Fleck durchläuft das Erkennen letztlich drei grundsätzliche Etappen (S. 75 f.): vom „schöpferischen Chaos der Gedanken“ über einen beweisbaren Gedanken, der sich „im Stilsystem unterbringen“ lasse, bis zum selbstverständlichen Gedanken.
Selbstverständlichkeiten aber behindern neue Denkmöglichkeiten. Fund für Fleck „besitzt nur die Theorie einen Wert, die neue Forschungsfelder, neue Denkmöglichkeiten schafft, und nicht die, die zukünftigen Forschungen den Weg versperrt“ (S. 64). Und wie kommt man dahin? Kuhn vorwegnehmend, so meine ich, stellt Fleck hierzu fest: „Man kann etwas Neues und Abgeändertes nicht einfach und sofort sehen. Zuerst muß sich der ganze Denkstil verändern, muß die ganze intellektuelle Stimmung ins Wanken kommen, muß die Gewalt der gerichteten Denkbereitschaft aufhören. Es muss eine spezifische intellektuelle Unruhe und eine Wandlung der Stimmungen des Denkkollektivs entstehen, die erst die Möglichkeit und die Notwendigkeit dazu schafft, etwas Neues, Abgeändertes zu sehen“ (S. 78). Wann aber entsteht eine solche intellektuelle Unruhe? Was muss (alles) passieren, dass die Intellektuellen (gibt es die noch?) unruhig werden?
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