Von 1947 stammt der sechste Aufsatz im Band „Erfahrung und Tatsache“, dem Fleck den schönen Titel „Schauen, sehen, wissen“ gegeben hat – ein Text, der erstmals auch Abbildungen enthält und mich an vielen Stellen an Aussagen der Gestaltpsychologie erinnert hat. Doch zunächst noch einmal der kurze Hinweis auf die bereits bestehenden Kommentare zu Flecks anderen Aufsätzen: hier, hier, hier, hier, hier (zum Verfahren siehe hier).
Viele Sätze, die man in diesem Text lesen kann, kommen einem vermutlich trivial vor. Was Fleck hier schreibt und was mit ihm zu dieser und in späterer Zeit verschiedene andere Wissenschaftler (u.a. die oben genannten Gestalttheoretiker) formuliert haben, hat sozusagen lange überlebt, sich etwas gewandelt und ist offensichtlich in unser Denkkollektiv eingegangen – wird aber in anderen (sogar nahen) Denkkollektiven mitunter trotzdem gerne ausgeblendet. Exemplarisch wähle ich ein paar Aussagen aus:
„Um zu sehen, muß man wissen, was wesentlich und was unwesentlich ist […]. Sonst schauen wir, aber wir sehen nicht, vergebens starren wir auf die allzu zahlreichen Einzelheiten, wir erfassen die betrachtete Gestalt nicht als bestimmte Ganzheit“ (S. 148). „Die Kenntnis einer Gestaltung schafft die Disposition, sie wahrzunehmen“ (S. 152). Mit der Bereitschaft, bestimmte Gestalten wahrzunehmen, reduziere sich aber auch die Fähigkeit, andere wahrzunehmen (S. 149) – ein Umstand, auf den Fleck schon in früheren Texten hingewiesen hatte. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die folgende Aussage Flecks Lösung für dieses Problem ist: „Um zu sehen, muß man zuerst wissen, und dann kennen und einen gewissen Teil des Wissens vergessen“ (S. 154).
In Bezug auf die Hochschuldidaktik sind diese Erkenntnisse meiner Einschätzung nach wichtig, wenn es um die Rolle des hochschuldidaktisch forschenden Wissenschaftlers geht, der selber in der Lehre tätig ist. Als Forschender bildet auch der Hochschuldidaktiker bestimmte Wahrnehmungsdispositionen aus, und die, so meine ich, könnte und sollte er im Rahmen der Lehre nutzen und wiederum als Erkenntnisse für die eigene Forschung heranziehen (dürfen). Mehr dazu unter anderem hier .
Woher aber kommt das Wissen um Gestalten? „Den überwiegenden Teil unserer Gestalten (obwohl wahrscheinlich nicht alle) hat die Umgebung geschaffen, die Sprachgewohnheit, die Meinung der Allgemeinheit, die Tradition. Sie dressieren uns auf eine gewisse Ganzheit …“ (S. 157). Am Ende sähe man mit den Augen des Kollektivs – und das gelte auch für die Naturwissenschaften, die sich gerne als davon unabhängig (und exakt) verstehen würden. Auch wenn – wie in den Naturwissenschaften üblich – Geräte zum Einsatz kämen, seien diese „immer Ausdruck eines gewissen, bereits entwickelten Stils des Denkens“ (S. 164). „Die Objektivität wissenschaftlicher Beobachtungen beruht einzig auf ihren Bindungen mit dem ganzen Vorrat an Wissen, Erfahrung und traditionellen Gewohnheiten des wissenschaftlichen Denkkollektivs …“ (S. 166 f.). Hier verbindet Fleck also seine – ich sage mal – gestalttheoretischen Überlegungen mit seiner Theorie von den Denkkollektiven.
Flecks Fazit: „Im Alltag wie in der Wissenschaft dringt das Kollektiv als drittes Ding zwischen Subjekt und Objekt der früheren Wissenschaft vom Erkennen ein“ (S. 167). Das Kollektiv dränge entsprechend auch in den Prozess des Schauens und Sehens. Oder anders (besser) formuliert: „Das Kollektiv ist in diesen Prozeß als drittes Glied eingeschlossen …“ (S. 168). Oder nochmal anders gesagt: „Alles Erkennen ist ein Prozeß zwischen dem Individuum, seinem Denkstil, der aus der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe folgt und dem Objekt“ (S. 168).
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