Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Von Verfasstheiten und Verfassungen der Lehre

Es geht gerade etwas chaotisch zu mit dem Begriff der Lehrverfassung. Im Mai 2017 hieß es in einem Positionspapier des Wissenschaftsrates, dass jede Hochschule eine Lehrverfassung brauche, die „ein verbindliches Leitbild für die Lehre“ (WR, 2017, S. 16) beschreibt. Die Fußnote dazu erläutert, dass Verbindlichkeit nicht im juristischen Sinne zu verstehen sei, „sondern als interpersonelle ideelle Norm, die an der jeweiligen Hochschule gemeinsam entwickelt wird und von ihren Mitgliedern als Maxime akzeptiert werden soll“ (S. 16). Eine Frage, die sich bei dieser Definition von Lehrverfassung als verbindliches Leitbild wohl sofort gestellt hat, war die, ob die Leitbilder, die sich viele Hochschulen für die Lehre inzwischen gegeben haben (und einige davon sind sicher auch in umfänglicher Gremienarbeit formuliert worden), nun als „Verfassung“ taugen.

Unabhängig von der Klärung dieser Frage schienen wenige Monate später bereits Fakten geschaffen worden zu sein: Jan-Martin Wiarda postete in seinem Blog (hier), dass sich die Länder auf einen Staatsvertrag geeinigt hätten, welcher einen Paragraphen enthalte, der bestimmt: „Die Hochschule verfügt über eine Lehrverfassung, die sich in ihren Studiengängen wiederspiegelt“. Wer aufgrund der Unklarheit des Begriffs Lehrverfassung diese vielleicht einfach beiseite geschoben hatte, hat sich vermutlich spätestens jetzt doch wieder gefragt: In welchem Verhältnis steht eine Lehrverfassung denn nun (a) zu einem Leitbild (falls es nicht dasselbe ist), (b) zu einer „Lehrstrategie“ – bestehend aus (so lese ich das im WR-Papier, Seite 15) einem ganzen Bündel institutioneller Strategien, definiert als „systematische Ansätze, die klar formulierte Ziele verfolgen, auf Kontinuität und Konsistenz angelegt und verbindlich sind“ und (c) zu einer institutionellen Programmförderung für die Lehre (analog zur Deutschen Forschungsgemeinschaft), welche allerdings die Hochschulrektoren Konferenz (HRK) unmittelbar (siehe hier) abgelehnt hat? Aber vielleicht ist das jetzt ohnehin egal, weil die KMK auf Druck der Hochschulen eine Pflicht zur Lehrverfassung (siehe hier) kürzlich wieder gestrichen hat.

Im ersten Moment war ich am Begriff der Lehrverfassung selber auch nicht sonderlich hängen geblieben. Zweifeln ließ mich eher der gesamte Sprachduktus der WR-Empfehlung und nicht ein einzelner Begriff. Aber es muss ja wohl einen Grund haben, warum sich da so schnell so viel entzündet hat. Nach ein paar Recherchen bin ich auf einen Text von 2009 gestoßen, verfasst von Heinz-Elmar Tenorth mit dem Titel „Bildung oder Ausbildung? Lehrideal ohne Lehrverfassung“ [in: A. Schlüter & P. Strohschneider (Hrsg.), Bildung? 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert (S. 173-182). Berlin Verlag].

Obschon im Titel stehend, wird der Begriff der Lehrverfassung in diesem Text NICHT definiert. Man kann nur erschließen, was damit gemeint ist und das, so meine Deutung, changiert zwischen Lehrverfassung als dem aktuellen Zustand der Lehre, also ihrer Verfasstheit, einerseits und der Struktur der Lehre im Sinne von Formaten und Kommunikationsformen andererseits. Tenorth bettet seine Ausführungen zur Lehrverfassung vor allem in eine Diskussion um den Zweck der Universität und der universitären Lehre ein – und genau das, so meine ich, sagt viel über sein Verständnis von Lehrverfassung aus: Im Fokus des Textes steht das für die Lehre besonders relevante – historisch betrachtet wiederkehrende, gleichzeitig aber auch wandelbare – Spannungsverhältnis zwischen der Ausbildung für einen Beruf und der Bildung durch und für die Wissenschaft (so meine Reformulierung). Und das mündet in die Frage: „Ist die Universität gezwungen, den Konflikt zwischen ihrem Praxisideal, ´Bildung´, und der dominierenden Aufgabe, ´Ausbildung´ für viele Aufgaben, zu Lasten der ´Bildung´ aufzulösen? Oder kann sie eine genuine Lehrverfassung ausbilden, die ihre multiple Funktion aufnimmt und im Blick auf die Akteure doch noch Bildung möglich sein lässt?“ (Tenorth, 2009, S. 179 f.).

Eine Verwendung des Begriffs Lehrverfassung in diesem Sinne würde meiner Einschätzung nach darauf hinauslaufen, damit das Spezifische der universitären Lehre herauszuarbeiten etwa im Vergleich zur Fachhochschullehre oder zur Lehre dualer Hochschulen oder zur Lehre an Berufsbildungseinrichtungen. Das wäre aber etwas gänzlich anderes als eine Lehrverfassung, die sich jede Universität, Fachhochschule etc. als einzelne Organisation gibt. Auf eine Lehrverfassung, wie ich den Begriff in Tenorths Text verstehe, müssten sich die Universitäten eines Landes (oder darüber hinaus) verständigen: Notwendig wäre der Diskurs darüber, was die Universität als gesellschaftliche Institution ausmacht, wie sich genau dies in der Lehre zu zeigen hat, wie man mit den alten und neuen Dualismen in der universitären Lehre (u.a. Bildung versus Ausbildung) umgeht, in welcher Form und Intensität sich universitäres Lehren und Lernen auf gesellschaftliche Veränderungen einstellen kann und muss und welchen Einfluss sie selbst auf gesellschaftlichen Wandel nehmen will usw. Das hieße dann aber auch, dass Fachhochschulen und andere Hochschultypen eigene Lehrverfassungen bräuchten – wiederum institutionell passende und prägende „Verfasstheiten der Lehre“ als gemeinsames Ziel und Ideal für ihren Hochschultypus. Der Diskurs über die Lehrverfassung von Universitäten wäre demnach immer auch ein Diskurs über den Kern (und damit auch Zweck) der Universität als gesellschaftliche Institution. Lehrverfassungen, wie sie sich der WR vorstellt, erfordern dagegen einen Diskurs (und Abstimmungsprozess) in jeder einzelnen Organisation – und zwar vor allem über deren Profil, in Abgrenzung und Konkurrenz zu Profilen anderer Universitäten. Und das sind zwei sehr verschiedene Dinge.

Tenorth stellt in seinem Text (S. 180-182) am Ende seine Auffassung vor, was eine universitäre Lehrverfassung berücksichtigen sollte: etwa eine Orientierung sowohl am Beruf als auch an einer künftigen Forscherrolle; Lehrformen, welche die Vorlesung ergänzen und nicht selbst zu verkappten Vorlesungen werden; Forschungsorientierung von Beginn an; methodologische Reflexion; und eine „universitäre Bildung der Persönlichkeit […] in der fachlichen Qualifizierung“ (S. 181). Man mag da beklagen, dass das doch viel zu allgemein sei. Und natürlich wäre eine Lehrverfassung als Leitidee für Lehre an allen unseren Universitäten (Lehrverfassung im Sinne von Tenorth) weit weg von Lehrverfassungen als Steuerungsinstrument mit operationalisierten Zielen, deren Erreichen kontinuierlich evaluiert wird (Lehrverfassungen im Sinne des WR).

Mich hat das Positionspapier vom WR viel zum Nachdenken gebracht. Ich habe das Papier zunächst vor allem mit Neugier  gelesen – und in einer ersten Reaktion (hier) expliziert, was mir positiv aufgefallen ist und was mich zweifeln lässt. Im Dialog mit Kollegen hat sich dann das potenzielle Risiko in den Fokus meines Bewusstseins gedrängt, dass solche Papiere vordergründig hilfreich sind für die Lehre, letztlich aber den schleichenden Prozess einer Formalisierung und Außensteuerung akademischen Lehrens und Lernens vehement vorantreiben. Ich finde es daher – für den Diskurs über eine so wichtige Sache – legitim, auch mal provokativ Stellung zu nehmen und die mit diesem Zweifel verbundenen Fragen zu stellen (wie hier). Allerdings ist mir die bloße Kritik selber zu wenig. Als Hochschuldidaktikerin (und so würde ich mich inzwischen schon bezeichnen), wäre es ja auch absurd, würde mir NICHT daran gelegen sein, dass wir alles daran setzen, die Lehre an unseren Universitäten besser zu machen – und zwar auf einer wissenschaftlich reflektierten Basis. Das heißt aber nicht automatisch, dass man jedes Papier, das die Lehre ins Zentrum rückt, als willkommene Fürsprache für die vernachlässigte Lehre preist; man muss schon genau hinschauen, was da im Einzelnen befördert werden soll. Und vielleicht ist der Begriff der Lehrverfassung, an dem sich nun einige gerieben haben, ein guter Impuls aus dem WR-Papier, um eine echte Diskussion (anstelle einer bloßen Verkündigung) darüber anzuregen, ob und wenn ja welche “Strategien“ Universitäten brauchen, um akademische Lehre so zu gestalten, dass sie dem Kern der Universität entspricht UND diesen weiterentwickelt.

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