Was für ein treffender Artikel! Er ist zwar nicht über die Hochschulen, sondern über die Wirtschaft geschrieben, aber wer ihn als Angehöriger einer Hochschule liest, weiß: Man braucht da nur „Unternehmen“ und „Wirtschaft“ durch „Hochschulen“ und „Wissenschaft (oder auch „Bildung“ zu ersetzen und die Treffsicherheit ist immer noch ganz enorm. Worum geht es? Es geht um Bürokratie, aber auch um deren Ursachen – vor allem um die grassierende „Vollkasko-Mentalität“, zu der potenziell jeder beiträgt, der sich gegen alles und jedes absichern will. Der Kommentar – hier online zugänglich – stammt von Marc Tribelhorn, Redakteur bei der Neuen Zürcher Zeitung. Aber von vorne:
Ausgangspunkt des Kommentars sind die Arbeiten von David Graeber, der in seinen Schriften feststellt, dass es immer mehr berufliche Tätigkeiten gäbe, die eher einer sinnlosen Selbstbeschäftigung gleichen als zum produktiven Gelingen eines gemeinsamen Vorhabens einer Organisation (oder Institution) beizutragen – was dann nicht eben schmeichelhaft als Bullshit-Jobs bezeichnet wird. Nachvollziehbar zeigt der Kommentar auf, dass diese Erkenntnis so neu gar nicht ist (und Analysen in den 1950er Jahren die Bullshit-Jobs schon prophezeit haben) und die zugrundeliegende Entwicklung natürlich auch Gründe hat – eine Entwicklung, die uns heute, so Tribelhorn, Stellen- und Berufsbezeichnungen beschert wie: „Human Resources Management Consultant, Regulatory Compliance Manager oder Senior Compensation&Benefits Specialist“. Ein Phänomen nur in der Wirtschaft? Jeder möge doch mal an seiner Universität auf die Web-Präsenz der Verwaltung schauen und sich die immer neuen Bezeichnungen ansehen, die man den diversen Teams, Arbeitsgruppen, Referaten, Abteilungen gibt (die natürlich alle ihre Leiter haben, sodass man im Nu bei fünf Hierarchieebenen ist, wenn man die armen Mitarbeiter mitzählt, die nichts zu leiten haben). Ich habe mal an unserer Uni (die hier nur stellvertretend für alle anderen stehen soll) eine kleine Stichprobe gezogen. Die folgende Liste mit Bezeichnungen für Aufgaben, die jeweils mindestens einer Person zugeordnet sind und also die berufliche Tätigkeit umschreiben, ist nur eine Auswahl: Beteiligungsmanagement, Energiemanagement, Energiecontrolling, Projektmanagement Großprojekte, operatives Controlling, Personalentwicklung, Personalauswahl, Personalsachbearbeitung, Personalbedarfsplanung, Personalberichtswesen, Kapazitätsplanung, Anlagenzugänge, -abgänge, -änderungen, Anlagenrechnungsbearbeitung, Bundesbankkonten Kassenbuchungen, Mahn- und Betreibungswesen, Sachbearbeitung Inventar, Kosten- und Leistungsrechnung, SAP Inhouse Consulting, Planung und Budgetierung, Supervisorin Front Office, Supervisorin ServicePoint, … ich höre jetzt auf.
Als Paradebeispiel für die sich selbst verstärkende Dynamik dieser Betätigungsfelder führt der Kommentar die Evaluation auf – und hier dürfte der Transfer von der Wirtschaft zur Universität besonders leicht fallen, denn evaluiert wird derzeit so ziemlich alles. Tribelhorn stellt fest: „Ganze interne Abteilungen und ein Heer von externen Beratern haben sich auf solche ´Monitorings´ im Sinne des ´Qualitätsmanagements´ spezialisiert. Es gibt ja auch nichts, was nicht gemessen werden könnte. Nur: Längst nicht jede Messung führt auch zu Erkenntnissen, die diesen Namen verdienen. … Ganz abgesehen davon, dass die monströsen ´datenbasierten´ Berichte, die erstellt werden, niemand lesen will und dass sie selbstverständlich weitere Sitzungen, ´Debriefings´ sowie Massnahmenpläne, Reglemente und Leitfäden zur Folge haben. Heftig sind denn auch die Klagen über die grassierende ´Veradministrierung´ aller Lebensbereiche“.
Eben diese Klagen beleuchtet Tribelhorn zu Recht auch kritisch, denn natürlich muss man sich fragen: Wo kommt denn nun eigentlich dieser ganze Wahnsinn her? Die Wirtschaft macht gerne schon mal den Staat verantwortlich: Immer mehr Regelungen, Verordnungen und Gesetze würden den bürokratischen Aufwand verursachen, was so ganz falsch ja nicht ist (man denke nur an die DSGVO). Tribelhorn nennt aber noch einen anderen, nämlich generellen gesellschaftlichen Trend, den „der Umgehung von Risiken, der Angst vor Fehlern und der Flucht aus der Verantwortung“. Aus diesen Gründen würden Management-Abteilungen florieren wie das Controlling, die Kommunikation, interne Rechtsabteilungen und das Personalwesen, das sich schon lange nicht mehr nur um Arbeitsverträge kümmert. „Alles muss akribisch verschriftlicht, vermessen und doppelt abgesichert sein, um gegen Negativschlagzeilen oder Klagen gefeit zu sein, und zwar in Betrieben wie bei den Behörden.“ Das ist aus meiner Sicht eine sehr treffende Diagnose: Die oben genannte Vollkasko-Mentalität ist eine ausgesprochen passende Metapher für das, was ich auch selber beobachten kann: Lass mich leiten und Untergebene haben, gib mit Verordnungen und Formulare zum Weiterreichen, aber halte mir die Verantwortung vom Hals (bestimmt gibt es einen über mir, der die dann übernehmen kann, wenn doch mal was nicht laufen sollte trotz der vielen Standards).
Tribelhorn zitiert den emeritierten Wirtschaftsprofessor Norbert Thom, der von einem „Trieb zur Unsicherheitsvermeidung und ständigen Beweissicherung“ spricht, sozusagen die Quelle für das umtriebige Protokollieren, Evaluieren, Quantifizieren und Steuern – möglichst von ganz oben. Und natürlich befördert genau das wieder und wieder noch mehr Bürokratie. „Diese Vollkasko-Mentalität,“, so Tribelhorns Resümee, „die viele Reglemente, aber keine Fehlerkultur mehr kennt, hat indes Folgen, die über die Effizienzverluste und die unmittelbaren Kostensteigerungen hinausreichen: Eingeschränkt werden nämlich die liberalen Kardinaltugenden der Mitarbeitenden wie Eigenverantwortung, intrinsische Motivation, Expertise und gesunder Menschenverstand“. Wie wahr!