„Anwendungsorientierung in der Forschung“ empfiehlt der Wissenschaftsrat (WR) in einem aktuellen Positionspapier und kritisiert deutlich die bisherige rigide Trennung von Grundlagenforschung und Angewandter Forschung. Vor ziemlich genau einem Jahr hat sich die HRK ebenfalls mit der Anwendungsorientierung beschäftigt und für mehr Förderung der „Anwendungsorientierten Forschung“ ausgesprochen (ich hatte hier darüber berichtet). Der WR traut sich jetzt einen Schritt weiter und formuliert ein Plädoyer zur Überwindung des Dualismus von Grundlagen- und Angewandter Forschung, was keineswegs grundsätzlich neu ist (siehe z.B. einen älteren Beitrag dazu hier) aber in dieser Form vom WR meines Wissens noch nicht formuliert worden ist.
Und was bedeutet „Anwendungsorientierung in der Forschung“ im WR-Papier? Das bedeutet, dass man sich von der „kategorialen Unterscheidung verschiedener Domänen“ verabschieden und darauf hinweisen will, „dass sich Akteure in allen Teilen des Wissenschaftssystems an möglichen Anwendungen orientieren und umgekehrt stärker anwendungsnah arbeitende Forschende das Potenzial grundlagenorientierter Arbeiten für ihre Forschungsfragen nutzen können“; zugleich könnten grundlegende Fragen überall im System eine Rolle spielen (WR, 2020, S. 11).
Begründet wird der Vorstoß mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und der veränderten Rolle der Forschung für die Gesellschaft – nun ja, das tut man seit Jahrzehnten. Bemerkenswert ist aber, dass der WR klare Worte dafür findet, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssten, damit „Anwendungsorientierung in der Forschung“ realisiert werden kann: Wenn etwa das aktuelle, sich selbst verstärkende, Reputationssystem für Wissenschaftlerinnen bleibt wie es ist, wird daraus nichts werden. Hier fordert der WR die Umkehrung einer Richtung, die allerdings gerade erst so richtig Fahrt aufgenommen zu haben scheint: „In den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass sich selbst in jenen Fächern, die in ihrem Selbstverständnis die Anwendungsorientierung in der Forschung verankert haben, rein akademisch ausgerichtete Leistungsindikatoren als entscheidende Berufungskriterien durchsetzen“ (WR, 2020, S. 34). Ist der Zug womöglich schon abgefahren?
Auch die Geldgeber werden angesprochen: Angemahnt werden z.B. mehr Flexibilität in der Verwendung der Mittel, Korrekturen an der Forderung, den Nutzen schon zu Beginn eines Forschungsprozesses zu beschreiben, und mehr Offenheit für die Unwägbarkeiten infolge der Anwendungsorientierung. Auch die DFG wird direkt angesprochen: „Ausdrücklich richtet der Wissenschaftsrat die Bitte an die DFG, noch stärker als bisher in den Fachkollegien und bei den Gutachtenden für Offenheit gegenüber einer Anwendungsorientierung in der Forschung und gegenüber Kooperationsprojekten, die die Grenzen von Forschungsfeldern und von verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen überschreiten, zu werben“ (WR, 2020, S. 38). Ob es da aber mit einer „Werbung“ getan ist?
Dilemmata und Zielkonflikte, die entstehen, wenn mehr Anwendungsorientierung in die Forschung kommt, werden nicht verschwiegen; es ist nicht verwunderlich, dass da keine Patentrezepte auftauchen, wie man damit umzugehen hat, aber immerhin wird darüber gesprochen bzw. geschrieben.
Man mag vielleicht nicht mit jedem Satz einverstanden sein, und sicher kann und muss über das eine oder andere diskutiert werden. Vom Tenor her aber halte ich das Positionspapier für wichtig und hoffe, dass es bei Hochschulleitungen (Stichwort Berufungen) und Förderinstitutionen (Stichwort Kriterien) gelesen und als Grundlage für eine Kursänderung in Erwägung gezogen wird. Zweifel habe ich allerdings, ob ein solches Positionspapier wirklich viel Resonanz auslösen wird – allzu stark haben sich bereits die Mechanismen etabliert, zu deren Veränderung hier aufgerufen wird.