Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Sehend durch die Welt gehen

Forschendes Sehen – gibt es das? Man kennt forschendes Lernen, also ein Lernen, indem man selber forscht. Aber ein forschendes Sehen? Wir verwenden den Begriff in unserem Projekt SCoRe (Student Crowd Research: Videobasiertes Lernen durch Forschung zur Nachhaltigkeit: Infos hier im Blog z.B. hier) – in der Schreibweise „Forschendes Sehen“ und wohl wissend, dass es sich hierbei um noch keinen etablierten und daher auch (noch) nicht definierter Begriff handelt. Wie kommen wir dazu?

Ein zentraler Grund ist der, dass der Einsatz von Video integraler Bestand des SCoRe-Projekts ist. Video wollen wir nicht nur als Mittel in erkenntnisstützenden Prozessen einsetzen, sondern auch als Mittel in erkenntniskonstituierenden Prozessen (zu diesen Begriffen und dem Einsatz digitaler Medien beim forschenden Lernen, siehe hier). Allein schon aus diesem Grund kommt dem Sehen (lat. video = ich sehe) bzw. dem Beobachten (und damit der Beobachtung als Methode) eine zentrale Rolle zu. Das „videobasierte forschende Lernen“ (so stand es im Antrag) haben wir also inzwischen weiterentwickelt zu einem „Forschenden Sehen“, das in SCoRe unter der Bedingung der Vielen bzw. unter Crowd-Bedingung erfolgt. Was Viele sehen (können), wie (verschieden) Viele relevante Phänomene im Kontext Nachhaltigkeit wahrnehmen und welche Möglichkeiten es gibt, gemeinsame Bedeutungen auszuhandeln, stellt einen besonderen und potenziell motivierenden Umstand da, Studierende an Forschung und eine forschende Haltung heranzuführen – so jedenfalls unsere Annahme. Wenn wir nun also in SCoRe das forschende Lernen zu einem „Forschendes Sehen“ spezifizieren, legen wir damit auch fest, dass die Beobachtung als Forschungsmethode (im weitesten) Sinne im Zentrum steht.

Um zu verdeutlichen, was uns vorschwebt, wenn wir vom „Forschenden Sehen“ sprechen, hilft vermutlich am besten eine genauere Analyse der verwendeten Wörter und ein Beispiel (das Folgende haben wir im UHH-SCoRe-Team, zu dem uch noch Alexa (Brase) gehört sowie zusammen mit Frank (Vohle) erarbeitet, der ebenfalls am Projekt beteiligt ist): Die ursprüngliche Bedeutung von Sehen ist „mit den Augen verfolgen“ und hat eine Verwandtschaft mit dem lateinischen sequi (=folgen). Das Wortfeld Sehen (also bedeutungsähnliche Wörter) macht gut deutlich, wie vielschichtig das sein kann:

Sehen kann z.B. bedeuten, (1) mit den Augen optische Eindrücke wahrzunehmen (ich sehe die Foodsharing-Station am Marktplatz stehen), (2) etwas bemerken und als vorhanden feststellen (ich sehe, dass es in meiner Nachbarschaft eine Foodsharing-Station gibt), (3) den Blick auf etwas richten, um etwas zu ermitteln (ich sehe mir genauer an, welche Produkte in der Foodsharing-Station liegen), (4) nach etwas Ausschau halten und entdecken (ich sehe, wie jemand den Foodsharing-Stand bemerkt, kurz innehält und dann weitergeht), (5) etwas prüfen, einschätzen, beurteilen (ich sehe es so, dass zu wenige Menschen die Foodsharing-Station nutzen), (6) sich etwas (bildlich) vorstellen (ich sehe es innerlich vor mir, wie jemand hungrig vor der leeren Foodsharing-Station steht), (7) sich ein Bild vom Ganzen machen (ich sehe, dass soziale Ungleichheit insgesamt in den vergangenen Jahren zugenommen hat), (8) erleben (ich sehe durch die Foodsharing-Station bei mir die Bereitschaft zum Teilen) usw.

Sich diese Vielfalt des Wortfelds Sehen klar zu machen, kann bereits etwas mit der Entwicklung einer forschenden Haltung zu tun haben: In diesem Sinne „sehend“ durch die Welt zu gehen (und das Wortfeld macht klar, dass es mehr ist als die Wahrnehmung optischer Eindrücke“), kann schon etwas verändern und einen forschenden „Blick“ anstoßen. Im wissenschaftlichen Sinne forschend aber wird das Sehen und das Wortfeld Sehen natürlich erst dann, wenn es mit entsprechenden Ansprüchen verbunden wird. So könnten sich Studierende etwa fragen: Was ändert sich am Prozess und Ergebnis des Sehens bzw. Beobachtens, wenn wir (a) die Perspektive bzw. unseren Beobachterstandpunkt wechseln, (b) nicht intuitiv, sondern methodisch geleitet sehen, (d) das individuell Beobachtete untereinander vergleichen und aushandeln, was wir (im Detail) erkennen, (e) explizit machen, was wir auch sehen, obwohl es optisch nicht wahrzunehmen ist, (f) prüfen, was wir zu sehen glauben oder sehen wollen? Usw.

Setzt man nun, wie in SCoRe vorgesehen, auch noch Video ein, erweitern sich die Optionen des Sehens und damit auch die eines Forschenden Sehens: Grundsätzlich ermöglichen eine Videoaufnahme und dessen Speicherung, das Gesehene wiederzugeben ebenso wie (vor der Wiedergabe) auf unterschiedliche Art und Weise zu bearbeiten. Wird 360 Grad Video eingesetzt, kommen weitere, qualitativ neue, Möglichkeiten hinzu. Insbesondere der Effekt der Immersion eröffnet beispielsweise die Chance, den Raum zu explorieren und sich in erhöhtem Maße involviert zu erleben.

Hoffentlich bald werden wir unsere Überlegungen zum „Forschenden Sehen“ systematischer aufarbeiten und zugänglich machen.

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