„Educational Research. An Unorthodox Introduction“: Das Buch mit diesem Titel von Gert Biesta, in diesem Jahr (2020) erschienen, liegt schon einige Wochen auf meinem Schreibtisch. Nun habe ich es endlich gelesen – mit Gewinn. Im Vorwort betont Biesta, dass er seine unorthodoxe Einführung in die Bildungsforschung nicht geschrieben hat, um Lehrwerke zur Bildungsforschung zu ersetzen oder zu kritisieren. Vielmehr gehe es ihm darum, Fragen und Themen, die er in den „orthodoxen“ Einführungsbüchern vermisst, zusammenzustellen. Er rät daher dazu, sein Buch nicht statt, sondern neben anderen zu lesen.
Natürlich aber möchte Biesta auch die Fachgemeinschaft zum Nachdenken anregen und (das formuliert er auf Deutsch) Denkanstöße geben. Diese Denkanstöße haben viel zu tun mit Werten und Normen, mit der Beziehung zwischen Forschung und Praxis und dem Sinn, den man als Forschender der eigenen Arbeit gibt. Biestas Buch dreht sich, ebenso wie viele andere seiner Texte, zwar nicht ausschließlich, aber doch vorrangig um Schulbildung (so ist das meist auch bei deutschen Bildungsforscherinnen). In den insgesamt acht Kapiteln wird das Thema der Forschung für die Bildung allerdings relativ grundlegend behandelt, sodass das Buch auch für die Hochschulbildungsforschung bzw. für die hochschuldidaktische Forschung anregend ist. Vier Kapitel möchte ich besonders hervorheben und in aller Kürze skizzieren, womit sie sich beschäftigen:
In Kapitel 1 geht es um Forschungsparadigmen und das Problem, dass vor allem Novizen in der Forschung glauben, sie müssten sich für EIN Forschungsparadigma entscheiden und ihre Forschungsarbeiten damit grundsätzlich zum Zwecke des Erklärens oder Verstehens oder Aufklärens konzipieren. Biesta macht sich stattdessen für einen pragmatischen Standpunkt stark, ohne damit aber sagen zu wollen, dass man nun zum (ausschließlichen) Anhänger des Pragmatismus werden müsse. Nicht nur in diesem Kapitel plädiert Biesta dafür, sich immer wieder zu fragen, wozu man sich in der Bildungsforschung engagiert und welche Theorien und Paradigmen jeweils weiterhelfen.
Eine Antwort darauf gibt in gewisser Weise das zweite Kapitel: Forschung kann oder soll Bildung besser machen. Was aber ist besser? Welche Verbesserung ist gemeint? Biesta kritisiert, dass man damit gegenwärtig vor allem Wirksamkeit assoziiert (etwa die Wirksamkeit von Methoden im Unterricht), ohne sich ausreichend danach zu fragen, um welche Wirkung es genau geht. Er zeigt in diesem Kapitel exemplarisch auf, wie inhaltsleer und dekontextualisiert viele sogenannte Wirksamkeitsprinzipien sind – Prinzipien etwa für den Unterricht, die allesamt plausibel und irgendwie „gut“ klingen, aber tatsächlich gar nicht für alle erdenklichen Zwecke und Ziele geeignet sein können, also eben nicht grundsätzlich wirksam sind.
Diese Diskussion ist eng verknüpft mit dem Credo der Evidenzbasierung: In Kapitel 3 erläutert Biesta, warum „what works“ nicht genug ist. Er begründet seine Auffassung, dass der Evidenzbegriff viel zu eng definiert ist, wenn man darunter nur empirische Evidenz versteht, die wiederum auf spezifische empirische Methoden begrenzt wird. Auch hier kritisiert Biesta erneut die Abstinenz der Bildungsforscher im Hinblick auf Werte und Normen und fasst seine Position so zusammen, dass NEBEN eine breiter verstandene Evidenzbasierung eine Wertebasierung treten müsse. Oder anders formuliert: Nicht nur Wirksamkeit, sondern auch Normativität sollte in der Bildungsforschung Relevanz haben.
Einen interessanten Vergleich stellt Biesta in Kapitel 5 an, wenn er exemplarisch die englischsprachigen „Konfigurationen“ von Bildungsforschung mit den deutschsprachigen vergleicht, wobei er sich allerdings bei letzteren nur auf die geisteswissenschaftliche Tradition stützt. Die Schlussfolgerung, zu der Bietsa kommt, ist auch für die Hochschuldidaktik von Bedeutung: Bildungsforschung in Großbritannien sei im Gegensatz zu Erziehungswissenschaft in Deutschland keine eigene Disziplin, sondern ein Forschungsfeld, an dem sich viele Disziplinen (vor allem Psychologie, Philosophie, Soziologie) beteiligen. In der Folge fehle es der englischen Bildungsforschung an eigenen Theorien und Begrifflichkeiten, die nur in denjenigen Forschungsrichtungen entstünden, die auch eine eigene Disziplin bilden. Man mag einwenden, dass Biesta hier zu wenig auf die deutsche Entwicklung eingeht, die im Zuge der Internationalisierung ebenfalls in die Richtung eines Forschungsfeldes mit verschiedenen disziplinären Zugängen zustrebt. Allerdings, so habe ich es jedenfalls verstanden, geht es ihm eher darum, am deutschen Beispiel aufzuzeigen, DASS Forschung rund um Erziehung und Bildung eine eigene Disziplin sein KANN. Analog kommt mir hier der Vergleich zwischen der (deutschen) Hochschulforschung als einem multidisziplinären Feld und der Hochschuldidaktik-Forschung – mit der Didaktik als disziplinären Kern – vor.
Fazit: Biestas unorthodoxe Einführung in die Bildungsforschung ist lesenswert und beinhaltet viele relevante „Denkanstößen“ auch für hochschuldidaktische Diskussionen!