Bereits Mitte Juni hat Fritz Böhle einen Text zur „Krisenbewältigung bei der Corona-Pandemie“ (hier) veröffentlicht, auf den ich allerdings erst jetzt aufmerksam geworden bin. Fritz Böhle, den ich noch aus meiner Zeit an der Uni Augsburg kenne, setzt sich in diesem Text mit der Frage auseinander, wie es für die Politik möglich ist, trotz hoher Ungewissheit verantwortungsvoll zu entscheiden. Nun schien die Lage im Juni ja auf Entspannung hinauszulaufen – ein paar ruhigere Sommermonate standen bevor. Heute, rund vier Monate später, stehen wir wieder vor einer neuen Welle und Quasi-Lockdown-Maßnahmen. Böhles Bobachtung, dass „die Suche nach Gewissheit und Kontrolle“ selbst in einer höchst unsicheren (ungewissen) Zeit dominant ist, ist wohl nach wie vor aktuell.
„In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass die politische Krisenbewältigung für eine Ausnahmesituation angemessen war, auf Dauer gestellt aber selbst zum Problem und Hemmnis wird. Damit sind nicht in erster Linie Beschränkungen und deren Lockerung gemeint, sondern deren Hintergründe und die mit ihnen verbundenen Strategien“, so fasst Böhle selbst den Kern seines Textes zusammen. Die Politik und natürlich auch die Bürgerinnen, so der Tenor, würden nach möglichst großer Gewissheit streben: Man befragt die Wissenschaft und Experten, setzt auf Statistiken und neue Erkenntnisse – immer in der Hoffnung, dass die Gewissheit darüber, was nun richtige und nützliche Entscheidungen sind, wächst. Aber: Es gibt keine ausreichende Gewissheit, auf die sich Maßnahmen stützen könnten, und das gilt heute, vier Monate nach Erscheinen des Textes, immer noch, auch wenn wir schon mehr wissen also noch im März oder Juni: „Es muss vielmehr gehandelt werden, auch wenn vieles noch nicht ausreichend geklärt erscheint. Damit kommt die Reduktion von Komplexität ins Spiel“. Und hier wird Böhles Beitrag besonders interessant und wichtig, wie ich finde: Denn, wie Böhle ausführt, ein Problem bekommen wir dann, wenn das Bewusstsein dafür verloren geht, „dass die Reduktion der Komplexität von Entscheidungen selbst eine Entscheidung ist: über das, was in bestimmten Situationen gewusst wird bzw. werden kann, und das, was ungewiss ist. […] Geht das Bewusstsein hierüber verloren, entsteht eine Verwechslung zwischen dem, was zur Entscheidungsfindung hilfreich ist, und der Realität. Die Politik ist dann zwar entscheidungs- und handlungsfähig, entfernt sich jedoch immer mehr von dem realen Geschehen“. Böhle betont mehrfach, dass es ihm nicht darum geht, die Politik zu kritisieren, sondern das politische Handeln aus der Perspektive zu beleuchten, unter Ungewissheit zu handeln.
Ausblendungen sind ein weiteres Phänomen, auf das Böhle aufmerksam macht: „Schon in der Vergangenheit ist die wissenschaftliche Expertise zu einem wichtigen Ratgeber bei der Beurteilung gesellschaftlicher Problemlagen geworden. Dies ist auch bei der Corona-Krise der Fall. Doch wurde dabei die Wissenschaft ganz erheblich zurechtgestutzt. Denn hinter der Dominanz der Virologen und Epidemiologen verbirgt sich nicht nur der Rückgriff auf nur eine Wissenschaftsdisziplin, sondern auch die Reduzierung auf das Messbare und Quantifizierbare. Nicht nur andere politische Meinungen, sondern auch andere wissenschaftliche Sichtweisen, die sich nicht in gleicher Weise auf vermeintlich harte Zahlen stützen, werden damit in die Belanglosigkeit verwiesen. Wer sich hierfür stark macht, gerät allzu leicht in den Verdacht, die Krisenbewältigung zu gefährden, nach der Maxime ‚Freund oder Feind‘. Und zugleich haben auch die ökonomischen Hilfsprogramme den paradoxen Effekt, dass hiermit nicht nur reale Hilfe geleistet wird, sondern zugleich der Eindruck entsteht, negative Folgen der Krisenbewältigung bestehen im Wesentlichen ‚nur‘ in monetären Verlusten.“
Letztlich läuft der Beitrag auf das Plädoyer hinaus, „die Orientierung an Planung und Kontrolle zu modifizieren und sehr viel stärker die Betroffenen als aktive Akteure der Krisenbewältigung einzubeziehen. Nicht nur im Sinne der Partizipation, sondern im Sinne der Delegation und Verlagerung der Verantwortung und Kompetenz ‚nach unten‘ “.
Ich kann den Text zum Lesen nur empfehlen – auch mit Blick auf hochschulpolitisches Handeln, denn die (staatlichen) Hochschulen sind ja ebenfalls im Blickfeld der Politik, müssen sich an den politischen Vorgaben orientieren und ihrerseits als einzelne Organisationen Entscheidungen treffen. Wer in den letzten Wochen und Monaten in Hochschulgremien war, weiß, wie kontrovers viele Themen speziell zu Studium und Lehre in der Pandemie diskutiert werden, wie problematisch die Situation für die Studierenden ist, wie hilflos man sich letztlich im Gemengelage der Interessen und nicht immer konsistenten Verordnungen fühlt, wie schwierig es ist auszumachen, welche Akteursgruppen eigentlich für was genau verantwortlich sind etc. Und ich meine, auch das hat mit der Politik zu tun, die keine Erfahrung (mehr) hat im Umgang mit Ungewissheit; es hat aber wohl auch mit einer Gesellschaft zu tun, die für alles Regeln und Gewissheit haben will, die schnell bei der Hand ist, die Schuld für Fehler oder Fehlentscheidungen bei anderen, bei Organisationen oder eben bei der Politik zu suchen, die nur allzu oft und gerne Rechtsmittel einlegt, weil etwas nicht richtig geregelt wurde und dann unter anderem bei Hochschulleitungen Phobien vor Klagewellen verursacht … Ich habe den Eindruck, das einzige, was man im Moment nicht falsch machen kann, ist: beständig dazuzulernen und die Hoffnung nicht zu verlieren, dass wir in vieler (nicht nur medizinischer) Hinsicht schlauer aus dieser Pandemie rausgehen als wir reingekommen sind.