Gabi Reinmann

Hochschuldidaktik

Hybrid-Wunsch- und Albträume

Kürzlich titelte Jan-Martin Wiarda in seinem Blog (hier) einen Beitrag mit „Abschied von Hybridträumen“. Anlass des Textes ist die Entscheidung von Berlins Hochschulen, nun doch auf ein digitales Wintersemester zu setzen, während viele andere Bundesländer vorerst weiter an einem „Mischbetrieb“ festhalten würden. Als Synonym für Mischbetrieb ist vielerorts von Hybridlehre die Rede – ein Begriff, der im Kontext der Hochschullehre (und nur darauf beziehe ich mich im Folgenden) mindestens in drei Richtungen gedeutet und umgesetzt wird und damit alles andere als klar ist:

  • Lesart Nummer 1: Hybridlehre liegt vor, wenn Hochschullehrende ihre Veranstaltungen mit Präsenz- und Online-Elementen anbieten, also Präsenz- und Online-Elemente bezogen auf eine Veranstaltung kombinieren. Das ist wohl gleichbedeutend mit der gängigen Verwendung des Begriffs Blended Learning – auch schon vor Corona.
  • Lesart Nummer 2: Hybridlehre liegt vor, wenn Hochschullehrende ihre Veranstaltung in Präsenz anhalten und gleichzeitig die Möglichkeit anbieten, digital teilzunehmen. Das bedeutet, dass ein- und dieselbe Veranstaltung zeitgleich sowohl in einem physischen als auch in einem digitalen Raum stattfindet.
  • Lesart Nummer 3: Hybridlehre liegt vor, wenn an einer Hochschule die Veranstaltungen teils in Präsenz, teils digital angeboten werden. Nicht eine einzelne Veranstaltung ist dann ein Hybrid, sondern alle Veranstaltungen zusammen bilden ein Hybrid.

Wovon also ist an Hochschulen derzeit die Rede? Von allem. Das schafft einigermaßen Verwirrung, vor allem dann, wenn es z.B. um die Frage geht, welche „Szenarien“ es denn für DIE Hybridlehre gibt, welche technische Voraussetzungen gegeben sein müssen oder was Lehrende wie auch Studierenden können müssen, um das erfolgreich umsetzen zu können. Diejenigen, die diese Frage mit einem gewissem Druck im Hintergrund stellen (etwa Personen aus Hochschulleitungen oder Hochschulpolitik) reagieren meiner Erfahrung nach leicht ungehalten, wenn man sie darauf hinweist, dass man erst mal klären müsse, was denn jetzt genau gemeint sei. Erst mal klingt es ja auch ganz gut oder zumindest besser, wenn man an Präsenzhochschulen immerhin Hybridlehre anstatt „nur“ digitale Lehre verspricht.

Wenn die Frage allerdings vor allem darauf hinausläuft, wie es um den Aufwand von Hybridlehre bestellt ist, kann man, so meine ich, immerhin festhalten, dass ALLE drei Varianten für Hochschullehrende aufwändiger sind als die übliche Präsenzlehre. Da muss man wohl nicht noch weitere empirische Studien machen und die Lehrenden befragen, wie viel Zeit sie dafür brauchen. Es wäre schon viel gewonnen, kurz darüber nachzudenken: Es ist stets ein erhöhter Aufwand, wenn plötzlich Routinen wegbrechen und gänzlich neue Bedingungen das eigene Handeln auf den Kopf stellen.

Will man den Aufwand in eine Rangreihe bringen – falls das überhaupt geht –, würde ich sagen:

  • Lesart Nummer 3 könnte im Vergleich zu den anderen Lesarten etwas weniger Aufwand verursachen: Man entscheidet, welche Veranstaltungen zwingend in Präsenz sein müssen, bietet sie gegebenenfalls mehrfach an, um kleinere Gruppen zu haben, und setzt bei allen anderen Veranstaltungen auf digitale Lehre. Die Präsenz verlangt dann trotzdem noch mehr Aufwand als üblich (wegen der Abstandsregeln, kleineren Gruppen, Raummanagement, Desinfektion etc.), und die digitale Lehre ist vor für alle, mit digitalen Technologien nicht schon länger vertrauten, Lehrenden nach wie vor eine aufwändige Umstellung.
  • Lesart Nummer 1 dürfte einen mittleren Rangplatz einnehmen: Die Entscheidung für Blended Learning, um sich an Pandemie-Bedingungen anzupassen, ergibt nur Sinn, wenn man die Präsenz wiederum in kleinen Gruppen oder zumindest anders umsetzt, als es bisherige Hynrid-Konzepte in „normalen Zeiten“ (etwa bei Inverted Classroom-Modellen) vorgesehen haben. Und auch hier gilt natürlich, dass Lehrende, die digital unerfahren sind, einen besonders hohen Aufwand haben.
  • Lesart Nummer 2 dürfte den Aufwand auf die Spitze treiben: Zunächst einmal müssen die technischen Voraussetzungen für die gleichzeitige Durchführung von Präsenz- und digitaler Lehre vor Ort gegeben sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das in vielen Fällen so ist. Man mag sich zwar didaktisch Vieles erträumen können, was man bei so einer Verschmelzung des Analogen mit dem Digitalen alles machen kann; aber als Konzept für Lehrende, die es ansonsten gewohnt sind, weitgehend in Präsenz zu lehren, kann ich mir das beim besten Willen nicht als gute Option vorstellen. Das scheint mir dann doch eher ein Wunschtraum zu sein. Und selbst für im Digitalen geübte Lehrende dürfte die kognitive Belastung enorm sein, weil man sich auf zwei Szenarien gleichzeitig konzentrieren muss und nebenher vermutlich mit technischen Hürden zu kämpfen hat.

Eine andere Perspektive tut sich auf, wenn man danach fragt, welchen Sinn und Nutzen diese drei Optionen, „Hybridlehre“ umzusetzen, in einer Pandemie haben (und nochmal: meine Überlegungen beziehen sich auf die aktuelle Pandemie-Situation). Hier werden die Meinungen stark auseinander gehen. Meine ganz persönliche Einschätzung ist die, dass Hybridlehre in Lesart 2 (gleichzeitig präsent und online) an der Hochschule für alle Beteiligten schnell eine Zumutung und zum Hybrid-Albtraum werden kann; ich würde das nicht verantworten wollen. Auch Hybridlehre in Lesart 1 (präsent und online im Wechsel) ist meiner Einschätzung nach nur in speziellen Fällen ein Lösungsansatz in pandemischen Zeiten, denn wie soll fair und mit Verständnis für alle möglichen individuellen Bedingungen bestimmt werden, wer wann präsent sein kann, darf oder muss? Für mich läuft es am Ende auf Lesart 3 (Präsenzlehre da und digitale Lehre dort) hinaus, die in einer Pandemie eine einigermaßen gute Chance hat: Entscheiden, was zwingend in Präsenz stattfinden muss oder sollte, und das dann unter den gegebenen Auflagen umsetzen; alles andere findet verlässlich und mit hoffentlich steigender Qualität digital statt. Nur würde ich das wirklich nicht Hybridlehre nennen. Tatsächlich nämlich, so mein Eindruck, verstehen die meisten unter Hybridlehre genau das nicht, sondern eine Präsenzlehre mit gleichzeitig möglicher digitaler Partizipation – also die Wunsch- und Albtraum-Variante der Hybridlehre.

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